Tag 26

Derince – Hendek: 80km; 3:24h im Sattel; 6 Grad, bewölkt Hotel Mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Dankbarkeit starteten wir heute zur nächsten Etappe. Zum Frühstück bekochte uns der Vater von Kurtulus noch mit einem köstlichen Familiengericht aus Tomaten, Kräutern, Käse und Ei. Leider war den Besuch der staatlichen Schule heute wegen der Lehrerproteste ausgefallen. Dafür hatten wir noch eine ausgiebige Unterhaltung mit dem Schwager von Kurtulus. So oft haben wir jetzt schon gehört, wie groß der Wunsch vieler Türken eigentlich ist, Erfahrungen im Ausland zu sammeln, oder auch in fremde Länder zu reisen. Leider ist das für den Großteil der Türken weiterhin nur ein Traum. Mir wird immer mehr bewusst, wie ausserordentlich meine Situation aktuell ist. Die Chance, für so lange Zeit unterschiedlichste Länder zu bereisen gibt es nicht oft. Ich bin in der privilegierten Postion nahezu jedes Land meiner Wahl bereisen zu können und kann mir auch die Zeit dazu nehmen. Für viele ist das leider nicht möglich. Der Abschied aus Derince fiel fast ein bisschen schwer. So herzlich wurden wir hier aufgenommen, doch es liegt noch ein weiter Weg vor mir… Da wir erst am sehr späten Vormittag starteten, war uns klar, dass es heute nur eine kurze Tagesetappe werden würde. Der Regen hatte Gottseidank aufgehört. Die Straßen trockneten bereits wieder auf. Martin beschloss dennoch, für sein Rennrad Schutzbleche zu basteln. Ich nutzte den Stop an der Tankstelle und ließ mein Rad samt Packtaschen kurz mit dem Hochdruckreiniger säubern. Ein kurzer Fingerdeut, ein Kopfnicken und ein breiter Grinser genügte, um den Mitarbeiter der Tankstelle davon zu überzeugen, die Autoreinigung kurz zu unterbrechen und den Wasserstrahl auf mein Rad zu lenken. Mit einem glänzendem Rad ging es wieder auf die D 100. Die LKWs brausten ununterbrochen an uns vorbei. Der Himmel war leider wolkenverhangen, trotzdem konnte man schon in der Ferne blühende Obstplantagen erkennen. Wir passierten gerade einen großen See (Sapanca Gölü), um den herum offensichtlich viel Obst angebaut wird. Das weiße Blütenmeer der Plantagenbäume ließ das Grau in Grau der letzten Stunden vergessen. In einem traumhaft einfachen Lokal stärkten wir uns schließlich in Mitten von Mechanikern, LKW Fahrern und Schweißern aus der Gegend. Suppe, Hauptspeise, Dessert, Getränke etc. also das volle Programm für 5 EUR pro Person. Die perfekte Unterlage für die finalen 30km. Im Hotel angekommen begann gleich der große Waschgang. Ein großer Heizkörper war Garantie genug, die Klamotten bis morgen wieder trocken zu bekommen.

Tag 27

Hendek – Bolu: 91km; 4:32h im Sattel; 0-8 Grad, bewölkt Hotel Die kurze Etappe gestern war für mich gerade recht. In den letzten Tagen war ich nur zu sehr wenig Schlaf gekommen. Die Reserven konnten dank früher Bettruhe jetzt wieder gefüllt werden. Mit der Erwartung einer anstrengenden Etappe fiel das Frühstück recht ausgiebig aus. Gut gelaunt schwangen wir uns auf die Räder. Für heute hatte ich mir vorgenommen, ein paar Unterrichtseinheiten Türkisch im MP3 Player anzuhören. Leider ist die Leistung der Kopfhörer sehr beschränkt. Bei dem aktuellen Verkehrsaufkommen ist praktisch nichts zu verstehen. Frustriert packte ich am Gipfel des ersten kleinen Anstieges den Player wieder ein. Just in dem Moment riefen uns ein paar Schulkinder von der anderen Straßenseite aufgeregt zu. Kurzentschlossen wechselte ich die Straßenseite und versuchte mit ihnen ein wenig zu plaudern. Binnen weniger Minuten war ich von gut 30 Kindern umringt. Eilig versuchten die Kinder die Englischlehrerin aus dem Schulgebäude ins Freie zu bringen. Nachdem die ersten wichtigen Fragen der Kinder (woher, wohin, wie alt…) geklärt waren, lud uns Aisha – die Englischlehrerin – ein, die Schule zu besuchen. Die Freude war auf allen Seiten sehr groß. Wir besuchten nacheinander jede der 7 Klassen. Obwohl eigentlich regulärer Unterricht stattfand wurden wir in jeder Klasse aufgeregt empfangen. Die wenigen Englischvokabeln, die die Kinder bisher verinnerlicht hatten wurden ausgepackt. Aber schon nach kurzer Zeit überschlugen sich die Fragen in Türkisch und Aisha hatte alle Hände voll zu tun, uns die Fragen zu übersetzen. Die Kinder freuten sie riesig, Besuch aus dem Ausland zu bekommen. Auch Aisha war uns sehr dankbar für die Zeit, die wir uns genommen hatten. Sie ist die einzige Englischlehrerin an der Schule (ca. 150 Schüler). Das Lernniveau ist relativ gering, es fehlt gänzlich an Möglichkeiten, Englischkommunikation zu fördern… Nachdem uns das Lehrerkollegium überredet hatte, zumindest noch bis zum Mittagessen zu bleiben, stiegen wir wieder auf die Räder. Der Schulhof war voll mit Kindern, die uns freudestrahlend und eifrig winkend verabschiedeten. Wer auch immer einmal an der örtlichen Schule von Beylice vorbeikommt, soll bitte kurz dort vorbeischauen! Besuch wird immer sehr herzlich aufgenommen… Die nächsten Kilometer pedalierte ich mit einem breiten Grinser durch die Gegend. Die Freude der Schüler und Lehrer über unseren Kurzbesuch war ansteckend. Kurz hinter Beylice vollzog sich dann der lange erwartete Wandel der Landschaft. Die ersten Hügelketten säumten die Straße zu beiden Seiten. In der Ferne waren bereits die ersten schneebedeckten Berge zu erkennen. Kurz hinter Kaynasli fing die Straße an, sich gen Himmel zu richten. Zuvor hatten wir aber noch ein sehr lustiges Zusammentreffen mit drei Schulkindern am Straßenrand. Ich hielt kurz an, um einem der drei die Hand zu schütteln, dann erklärte ich ihnen mit meinem rudimentären Türkisch, woher ich komme und wohin ich fahre. Ungläubig musterten uns die drei, doch im nächsten Augenblick kümmerte sich der älteste der drei darum, dass unsere Wasserflaschen wieder randvoll waren. Ich überredete ihm danach noch kurz zu einen Versuch, mein Rad hochzuheben. Nachdem er kläglich gescheitert war, den Hinterreifen auch nur einen Zentimeter vom Boden zu heben, mussten die anderen natürlich auch noch ran… Kopfschüttelnd winkten sie uns hinterher. Dann gings aber endlich den großen Anstieg entgegen. 700 Höhenmeter am Stück lagen vor uns. Das Temperatur sank konstant. Der Schweiß floss dafür in Strömen. Der Tacho zeigte über lange Strecken 10% Steigung. Langsam schraubten wir uns in die Höhe. Eine dicke, weiße Atemwolke vor uns kamen wir langsam in eine schneebedeckte Landschaft. Die LKWs hupten uns aufmunternd zu und dann war es endlich geschafft. Wir waren auf knapp über 950m angekommen. Das Thermometer war auf Null Grad gefallen, ein paar Schneeflocken sammelten sich auf der Lenkertasche. Die letzten 5km bis zum Gipfel begleitete uns treuherzig ein Hund am Straßenrand. Übrigens der erste Hund neben meinem Rad, der mich nicht wild kläffend verfolgte. Doch oben angekommen wurden die Gänge wieder hochgeschalten und er konnte nicht mehr folgen. Die erste Bewährungsprobe für Martin mit seinem Reise-Rennrad in der Bergwertung war gemeistert. Alles problemlos überstanden. Nur bei den Abfahrten muss er leider etwas zurückstecken, da das Rad bei höheren Geschwindigkeiten sehr instabil wird. Da bin ich immer wieder heilfroh über mein Stahlross. Es gibt zwar auch bestimmte Geschwindigkeiten, wo es zum Schwingen anfängt, doch das lässt sich sehr schnell durch Änderung der Trittfrequenz ändern. Und was gibt es schöneres, als nach einem quälend langen Anstieg mit über 50 Sachen den Berg hinab zu rollen… Die letzten 15 Kilometer bis nach Bolu gings dann konstant bergab. Bei nur Null Grad und einem völlig überhitzten Körper war die Abfahrt dementsprechend frostig. Nach etwas längerer Suche stießen wir dann schlussendlich in Bolu auf das Stadtzentrum und checkten im erstbesten Hotel ein, um uns erst mal eine warme Dusche zu gönnen. Ein weiterer herzerwärmender Tag geht zu Ende. Wenn ich Leuten von meiner Tour erzähle werde ich immer wieder gefragt, warum ich mit dem Fahrrad unterwegs bin und nicht z.B. mit dem Auto… Der heutig Tag hat mir wieder gezeigt, wie richtig die Entscheidung war, das Rad zu wählen. Wo sonst ist so ein direkter Kontakt mit den Leuten am Straßenrand möglich? Manchmal nur ein flüchtiges Hallo, manchmal nur ein paar Worte durch das offene Autofenster, aber manchmal eben auch so unglaublich offenherzige Begegnungen wie heute in Beylice.