Tag 221 – 09.September

Shanhaiguan – kurz hinter Huluado: 167km; 7:38h im Sattel; 24 – 28 Grad, Sonne
Camping

Ein Teil des Grundgedankens der ganzen Reise war gestern bereits Wirklichkeit geworden. Von zuhause aus mit dem Fahrrad soweit in Richtung Osten fahren, bis es nicht mehr weitergeht, bis man am Meer ankommt… damit hatte die ganze Reiseplanung begonnen. Ein bisschen stolz bin ich durchaus, dass ich nun schon so weit gekommen bin. Die Schlussetappe in Richtung Korea wird nun eingeläutet. In sechs Tagen legt die Fähre ab, ich möchte aber schon in vier Tagen in Dandong sein, um mir noch einen Tag Entspannung gönnen zu können. Ausserdem muss auch noch das Ticket für die Fähre organisiert werden. Ein strammer Zeitplan also, aber für ein paar Abstecher ist immer noch Zeit.
Heute Morgen radelte erst einmal durch die “Altstadt” von Shanhaiguan. Meinem schlauen digitalen Spickzettel ist zu entnehmen, dass im Grunde die gesamte Altstadt nicht älter als 15 Jahre ist. Wie in vielen anderen Städten so wurde auch hier im Zeichen der Modernisierung die bestehende Altstadtstruktur dem Erdboden gleichgemacht. Nachdem aber ohne Altstadt Tourismus nur schwer in die Gänge kommt, wird eben eine Neue wieder aufgebaut. Disneyland á la China. Nicht alles, was alt aussieht ist auch wirklich alt… Offenbar hat mich nun das Mauerfieber gepackt, denn kurz bevor ich wieder auf die G102 einbiegen wollte, stach mir noch das Stück Mauer ins Auge, das ich gestern bereits bei der Stadteinfahrt gesehen hatte. Recht spektakulär verläuft die Mauer hier in Richtung Berge. Dieses Mal verzichte ich aber auf den Eintritt und mache mir aus der Ferne ein Bild vom ganzen Spektakel. Touristisch ausgeschlachtet bis in den kleinsten Punkt kann man sogar mit dem Sessellift ein Stück den Berg hinauffahren, um nicht ganz so weit klettern zu müssen… Weitaus spannender fand ich hingegen die noch verbliebenen Reste der Mauer bevor es in Richtung Berg geht. Ganz im Gegensatz zum restaurierten Teil sieht man hier noch sehr deutlich, dass die Mauer eigentlich aus gestampftem Lehm besteht und nur an der Aussenseite mit einem zweischaligen Mauerwerk verkleidet wurde. Baugeschichte zum Anfassen…
Die heutige Strecke verläuft zwar parallel zur Küste, allerdings dauert es bis zum Abend, bis ich wieder einen Blick aufs Wasser werfen kann. Scheinbar weiß man hier nicht so recht was man mit dem Meer anfangen soll. Nur wenige Stichstraßen führen zur Küste, im Grunde sind sämtliche Siedlungen weit vom Meer entfernt. In einem konstanten Auf und Ab gehts bei leichtem Gegenwind zielstrebig in Richtung Huluado. Victor hatte mir in Peking noch davon erzählt, dass Huluado einen recht schönen Strand haben soll. Erst in Xingchen führt die Straße direkt ans Meer. Der Küstenabschnitt ist durchaus reizvoll, doch fraglich für wie lange noch. Viele Hotelanlagen befinden sich im Bau, doch trotzdem findet man noch immer recht große Grünflächen dazwischen. Von Huluado hatte ich mir eigentlich eine boomende Riviera erwartet. Haufenweise Touristen, Strandbuden etc… Die Hoteltürme schießen wie Pilze aus dem Boden, aber es sind keine Leute da. Ich komme mir vor, wie in einer Geisterstadt des 21. Jahrhunderts. Fensterlose Hotels, leere Geschäftslokale, breite Straßen ohne Verkehr. Ob die hypermoderne Sportarena jemals Besucher gesehen hat – man weiß es nicht. Am Strand selbst gibt es dann doch noch ein paar vereinzelte Badegäste, aber man weiß nicht so recht, ob die besten Zeiten des Orts schon zurückliegen, oder ob man sich erst noch darauf vorbereitet. Eine ganz eigene Stimmung liegt in der Luft. So wie es den Anschein hat, befindet sich die Strandanlage in großer Entfernung zum eigentlichen Ortskern. Auf dem Weg dorthin ein ähnliches Bild wie an der Uferstraße – unbewohnte Hotels, leergefegte Gehsteige und kein Geschäft weit und breit. Es fühlt sich so an, als ob sich die Stadtplaner ein wenig im Maßstab vergriffen haben. Auf einer fünfspurigen Straße geht es in Richtung Zentrum, hier tut sich dann immerhin doch noch ein bisschen war. Ich hatte schon die Befürchtung, in einer völlig verlassenen Stadt gelandet zu sein. Am Strand hatte ich leider ein wenig die Zeit übersehen. An sich hatte ich mich schon darauf gefreut, in Strandnähe mein Zelt aufschlagen zu können, aber ich musste noch ein paar Lebensmittel und Getränke besorgen. Nachdem in Küstennähe kein einziges Geschäft ausfindig gemacht werden konnte, musste ich in die Stadt und von dort aus dann eben weiter auf die Bundesstraße. Damit konnte ja niemand rechnen, dass man vom Strand aus fast eine Dreiviertel Stunde strampelt, bis man zu einem Lebensmittelgeschäft kommt. Zum Glück fand sich dann kurz vor Sonnenuntergang doch noch ein passables Plätzchen etwas abseits der Straße. Meeresrauschen wäre mir lieber gewesen, aber das Rattern der Güterzüge in der Ferne ist auch eine beruhigende Geräuschkulisse.

Tag 222 – 10.September

kurz hinter Huluado – 20km hinter Panjin: 159km; 7:23h im Sattel; 20 – 31 Grad, Sonne
Camping

Auch wenn die Temperaturen unter Tags immer noch recht sommerlich sind, spürt man schon, dass der Herbst im Anmarsch ist. Nachts fällt das Thermometer regelmäßig unter 10 Grad und es dauert eine Weile, bis sich die kühle Luft wieder erwärmt hat. Zum Radfahren an sich eine Wohltat. Ich fühle mich momentan sehr an die Heimat erinnert. Landschaftlich erinnert vieles an die Niederbayerische Hügellandschaft, die Maisfelder neben der Straße und die herbstlich kühle Luft lassen mich wieder einmal mehr an zuhause denken. Seit gestern bin ich nun in der letzten Provinz meiner Chinareise, in Liaoning, angekommen. Vielleicht hat mein Eindruck von Huluado auch damit zu tun. In Liaoning, so scheint es, hat die Modernisierung nicht ganz so schnell Einzug gehalten. Es ist unverkennbar, dass die Bevölkerungsdichte hier weit geringer ist, als noch zum Beispiel in der Nachbarprovinz Hebei. Man kann fast behaupten, es wird wieder etwas ländlicher. Die Dörfer wirken etwas einfacher, gebaut wird hier offenbar nur, wenn auch Bedarf dazu da ist und der scheint nicht wirklich vorhanden zu sein. Ganz im Gegenteil – in vielen Dörfern sieht man überraschend viele unbewohnte Häuser, verlassene Gewerbebetriebe und verwilderte Gärten. Ist im Nordosten Chinas die Landflucht derart stark zu spüren, oder steht die Provinz wirtschaftlich einfach so schlecht da?
Von großen Industrieanlagen sieht man zu Beginn einmal nichts. Vorerst geht es durch einen bis zum Horizont reichende Schilfgürtel. Die vereinzelten Wegweiser zum Strand geben einen Eindruck wie breit der Schilfgürtel ist. Zwischen 30 und 50 Kilometer muss man auf einer schnurgerade verlaufenden Stichstraße in Richtung Meer fahren, bis man den Strand erreicht. Hier in der Gegend werden offenbar die Schilfmatten hergestellt, mit denen die Melonenlaster ausgekleidet werden. Das geschnittene Schilf wird auf LKWs mit speziellen Transportkonstruktionen über die Landstraße transportiert. Von der Ferne sieht es aus, als ob ein gewaltig großes Schilfbündel entgegenkommt, vom LKW ist nicht mehr viel zu erkennen…
Zum Radfahren ist die Gegend hier traumhaft. Praktisch kein Verkehr, viel Schatten und schnurgerade Straßen. Mir begegnen heute auch überraschend viele chinesische Radler, alle aber eigentlich ohne Gepäck, aber in voller Sportmontour.
Paprika und Auberginen sind gerade reif und warten aufs Verladen auf die LKWs. Am Straßenrand sitzen immer wieder Gruppen, die die Früchte in Kisten verpacken und anschließend zur zentralen Verladestelle transportieren. Vieles wird noch ohne motorisierte Transportmittel erledigt. Immer häufiger trifft man auf Esel, oder Maultiere die vor simple Karren gespannt sind. Den Kopf tief in einen Sack Getreide getaucht warten sie, bis der Karren beladen ist und trotten dann langsam am Seitenstreifen entlang.
Die Leute machen auf mich aber alle einen sehr zufriedenen Eindruck. Ich werde häufig gegrüßt und sobald ich irgendwo anhalte dauert es auch nicht lange, bis sich ein paar Neugierige um mich scharen. Mittags hatte ich mal wieder großes Glück bei der Speisenwahl und durfte mich über einen riesigen Teller Lammfleisch freuen. Gerade als ich fast am Platzen war, wollte die Dreiergruppe am Nachbartisch mich unbedingt zu sich zum Essen einladen. Nachdem ich ihnen klargemacht hatte, dass ich wirklich keinen Bissen mehr vertrage, gabs kurzerhand einfach ein paar Krebse als Wegzehrung geschenkt. Krebse werden hier überall am Straßenrand verkauft. Viel ist aber nicht dran, an so einem Krebs… Aber als kleiner Nachmittagssnack nicht zu verachten.
Im dichten Schilfgürtel sieht man nun immer häufiger Ölförderanlagen. Je weiter ich in Richtung Panji komme, desto dichter wird das Netz der Pumpanlagen. Lautlos heben und senken sich die Pumpen, ein etwas strenger Geruch liegt in der Luft.
Hinter Panji ist es dann aber zum Glück wieder vorbei mit der Ölindustrie. Nun wird wieder fleissig Reis angebaut. Ein schönes Bild, die endlos weiten Reisfelder in der tiefstehenden Nachmittagssonne. Leider werden die Fahrradtage nun immer kürzer. Sonnenuntergang ist momentan nun schon um 18 Uhr und so schön die Reisfelder auch sind, zum Zelten eignen sie sich leider nicht. Der fast durchgehende Wassergraben neben der Straße erleichtert die Zugänglichkeit zu den ab und an auftauchenden Baumgruppen auch nicht unbedingt, aber wie so oft taucht praktisch im letzten Moment mal wieder ein Spitzenplatz zum Zelten auf. Heute wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich nun zum vorletzten Mal mein Zelt auf chinesischem Boden aufschlagen werde. Die Tage verfliegen und schon bald habe ich Sichtkontakt zu einem der wenigen Länder, die von keinem Individualtouristen bereist werden dürfen. Nordkorea lässt sich momentan nur mit einer gebuchten Tour bereisen. Für mich ist daher die Reise auf dem Festland dort vorerst zu Ende.

Tag 223 – 11.September

20km hinter Panjin – 10km vor Hongqi: 159km; 7:1h im Sattel; 18 – 30 Grad, Sonne
Camping

Nachdem es in letzter Zeit nun wirklich schon recht früh dunkel wird, verschiebt sich mein Tagesrhythmus immer weiter nach vorne. Neuerdings wird schon um 5:30 Uhr Frischluft geschnuppert, sodass ich gegen 7 Uhr auf dem Rad sitzen kann. Die ersten Stunden begleitet mich meistens noch ein leichter Dunstschleier, aber kurz vor Mittag setzt die Sonne dann wieder mit voller Kraft ein. Auch heute gehts auf einer traumhaft ruhigen Straße weiter, mitten durch endlos weite Reisfelder, vorbei an unzähligen kleinen Krebsfarmen, die die Krebse aus kleinen Aquarien, oder aus Plastikwannen direkt an der Straße verkaufen. Erst kürzlich wurde die Straße frisch asphaltiert, jetzt rolle ich auf Flüsterasphalt meist im Schatten kräftig gewachsener Weidenbäume in Richtung Haicheng. Noch einmal ein bisschen städtisches Flair, dann gehts in eine immer ländlicher werdende Umgebung. Man hat das Gefühl, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Bisher war ich mir nie so sicher, ob man sich nur auf aufgeschütteten Plateaus bewegt, oder ob man wirklich am Festland unterwegs ist. Jetzt gehts ändert sich auf alle Fälle auch das Landschaftsbild wieder. Die Reisfelder verschwinden und dicht bewaldete Hügelketten tauchen auf. Auch wenn die Umgebung sehr hügelig wirkt, verläuft die Straße, bis auf ein paar Ausnahmen, meist ohne nennenswerte Steigungen. Der Herbst ist schon deutlich zu spüren, die Wälder beginnen sich bereits zu verfärben und es liegt verdächtig viel Laub auf der Straße. Die Siedlungsdichte geht nun schon fast gegen Null und Verkehr gibt es auch schon fast keinen mehr. Immer wieder gehts vorbei an verwaisten Häusern. Die Strecke ist aber bilderbuchartig schön. Mir kommt fast vor, als ob China nun gegen Ende noch einmal Frieden mit mir schließen will. Überaus freundliche Leute, traumhaft schöne Landschaft und ruhige Strecken – all das, wonach ich mich immer wieder gesehnt hatte darf ich nun in meinen letzten Tagen in China genießen. Der Nordosten des Landes macht auf mich bisher zumindest einen überaus sympathischen Eindruck. Die sonst schon fast alltäglich gewordenen Müllberge neben der Straße sind verschwunden und die bereitgestellten Müllbehälter werden sinngemäß verwendet. Achtet man mehr auf die Umwelt, wenn man in einer attraktiven Umgebung lebt? Vieles deutet zumindest darauf hin. Erstmalig fallen mir jetzt auch Blumen in den Vorgärten der recht simpel gehaltenen Häuser auf.
Nach einigen Kilometern in absoluter Ruhe tut sich langsam wieder was. Die sonst so schön einheitlich grün überzogenen Hügel sind nun großflächig aufgerissen, im großen Stil wird hier Bergbau betrieben. Den zahlreichen Steinbrüchen sind schon teilweise ganze Berge zum Opfer gefallen. Anfangs gehts vorbei an unzähligen Betrieben die Talk verarbeiten, doch dann gehts in eine Gegend in der nur noch Steinbrüche zu sehen sind. Allem Anschein nach sind hier in der Erde ziemliche Schmuckstücke verborgen. Gewaltig große Gesteinsbrocken liegen neben der Straße und warten auf Käufer zur Weiterverarbeitung. Von den Tempeln, Hotels oder Parks kennt man sie ja, die kunstvoll bearbeiteten Steine, meist marmoriert oder mit vielen Farbeinschlüssen. Hier vor Ort wird offenbar das Rohmaterial gewonnen. Private Händler verkaufen am Straßenrand kleinere Exemplare, die als Dekor, oder als Schmuckstück Verwendung finden. Die Steine werden in Wasserbädern präsentiert, um einen Eindruck zu bekommen, wie der Stein im polierten Zustand aussehen könnte. Beeindruckend sind aber vor allem die großen Exemplare, die in den Handwerksbetrieben parallel zur Straße bearbeitet werden. In manchen Betrieben werden die Steine nur poliert und in ihrer ursprünglichen Form belassen, doch es gibt auch andere Betriebe, in denen kunstfertige Steinmetze arbeiten, die beispielsweise in die großen Brocken ganze Geschichten hineinmeisseln. Selbstverständlich gibt es aber auch unzählige Löwen, Drachen, Stiere, oder Budda-Statuen. Unvorstellbar, was alles aus den Steinen herausgeholt werden kann. Aus fast jedem Hof ist das Surren der Schleif- und Poliermaschinen zu vernehmen, der Straßenrand gleicht schon fast einer Verkaufsgallerie. Für ganz besondere Exemplare gibt es dann aber auch richtige Schauräume, wie man sie von großen Autohäusern kennt.
Die wenigen LKWs auf der Straße sind dermaßen schwer beladen, dass ich sie sogar bei den Anstiegen überhole. Die Aufleger biegen sich schon verdächtig unter der gewaltigen Last.
Große Streckenabschnitte meiner Chinareise waren geprägt von monotoner und sich immer wiederholender Landschaft. Doch seit gut zwei Wochen tut sich wirklich viel und die Tagesetappen unterscheiden sich nun stets deutlich voneinander. Die Neugierde auf Südkorea steigt… Wenn es landschaftlich so weitergeht, dann stehen mir ja noch ein paar traumhafte Radtage bevor.
Heute ist mein voraussichtlich letzter Tag im Zelt auf chinesischen Boden. Es war nicht immer leicht in den vergangenen Wochen einen passenden Platz fürs Zelt zu finden, aber schlussendlich hatte ich meine Wahl nie bereut. Als gebührenden Abschluss gabs für heute noch einmal ein traumhaft ruhiges Plätzchen abseits der Straße mit Blick über die unter mir liegenden Maisfelder. Geschätzte 150km liegen jetzt noch vor mir, dann gibts die große Zieleinfahrt nach Dandong, der Stadt direkt an der Grenze nach Nordkorea. In Richtung Osten gehts hier dann nicht mehr weiter, die Nordkoreanische Grenze ist wohl noch eine der schärfsten der ganzen Welt.

Tag 224 – 12.September

10km vor Hongqi – Dandong: 142km; 6:27h im Sattel; 15 – 27 Grad, bedeckt
Hotel

Nach einer herrlich ruhigen Nacht gehts bei leicht bedecktem Himmel und doch noch kühlen Temperaturen durch eine wunderschöne Landschaft. In der Ferne verschwinden die bewaldeten Hügel im Dunst, die Reisfelder neben der Straße leuchten aber in einem kräftigen Gelb. Über viele Kilometer begegnet mir kein einziges Fahrzeug und die Abstände zwischen den Dörfern sind auch immer noch sehr groß. Man kann durchaus sagen, hier liegt der ländliche Teil Chinas verborgen. Für Fahrradfahrer durchaus ein Juwel. Die kleinen Dörfer allesamt sehr gepflegt, es gibt viele Blumen in den Vorgärten, der Straßenrand völlig frei von Müll. Man sieht Frauen am Fluss die Wäsche waschen, Hühner laufen frei herum und scharren in der Böschung nach Würmern. Wildenten und Gänse baden im Fluss. Ich bin immer noch überrascht, wie wenige Steigungen man überwinden muss, denn die Umgebung ist alles andere als flach. In den letzten Tagen gibts sozusagen noch einmal ein richtiges Gustostückerl zum Radeln. Für mich im Moment ohnehin schwer vorstellbar, dass die Fahrt in China nun ziemlich bald zu Ende geht.
Mitten im Nirgendwo kann ich dann noch einmal meine Fähigkeiten als mobiler Fahrradmechaniker auspacken. Eine alte Dame steht am Straßenrand und hantiert an ihrem Rad. Ich bleibe kurz stehen und erkundige mich, ob ich vielleicht helfen kann. Das Hinterrad blockiert beim Treten. So wie es aussieht fährt sich die Bremse fest. Ich versuche mein bestes und nach ein paar Minuten läuft das Rad wieder einwandfrei – zumindest so einwandfrei wie es in dem schlechten Allgemeinzustand nur laufen kann. Vier gerissene Speichen am Hinterrad, die Kette schon aufpoliert vom ständigen Schleifen am Schutzblech, Rost überall… Ich hoffe nur, dass die “Reparatur” bis in nächste Dorf hält, damit die Dame zumindest noch ihre Ladung dort abliefern kann. Die Räder werden offenbar wirklich gefahren, bis gar nichts mehr geht. Einen Sinn für Pflege, wie er zum Beispiel bei den Autos übermäßig stark ausgeprägt ist, gibt es nicht. Wirklich schade, denn nur ein gut gepflegtes Rad fährt man auch gerne.
Trotz leichtem Gegenwind gehts ziemlich gut voran. Bereits am späten Vormittag näher ich mich Fengchen, der letzten großen Stadt vor Dandong. Hier wird noch einmal Essens-Lotterie gespielt und mal wieder ein Hauptpreis gezogen. Ein weiteres bisher völlig unbekanntes Gericht auf meiner langen Speiseliste in China. Schwein mit Pilzen und frischem Gemüse. Es gibt vermutlich wirklich nicht viele Länder in denen man innerhalb von fast zwei Monaten praktisch jeden Tag etwas Neues essen kann.
Direkt hinter Fengcheng ragen die sog. Fengcheng Berge empor. Eine recht ansprechende Felsformation, die selbstverständlich mit zu den größten Touristenattraktionen der Stadt zählt. Ich bewundere die steil aufragenden Felsen von der Bundesstraße aus und nutze die nun wieder aufgetauchte Sonne um mein Zelt noch einmal ordentlich durchzutrocknen, nachdem es nun für längere Zeit nicht mehr ausgepackt werden wird.
Auf den letzten 50km bis nach Dandong kann ich noch einmal sehr gemütlich dahinpedalieren. Kurz vor der Stadt dann noch ein kleiner Anstieg, dafür gibts eine lange Abfahrt hinein nach Dandong. Weit früher als gedacht passiere ich den Bahnhof und strebe gleich einmal ein Hotel an. Am ersten Hotel werde ich gleich vor dem Eingang abgewiesen, doch recht freundlich auf ein anderes Hotel, ein paar hundert Meter weiter verwiesen, wo ich nach einer kurzen Preisverhandlung dann mein Lager für die nächsten zwei Nächte aufschlagen werde.
Ein wichtiger Punkt ist noch ungelöst… das Fährticket nach Südkorea. Ich mache mich also gleich noch auf den Weg zum Fährbüro um dort ein Ticket zu kaufen, doch heute gibts erst mal schlechte Nachrichten. Fährtickets nach Südkorea sind für den gesamten September ausgebucht. Es gibt schon einen lange Warteliste für praktisch jeden Termin. Nachdem ich der netten Dame die Dringlichkeit meiner Überfahrt klargemacht hatte, setzte sie mich immerhin an Nr.1 der Warteliste, rief dann aber eine Stunde später an um mir mitzuteilen, dass von ihrer Seite aus nichts mehr zu machen ist. Ich könne aber am Sonntag mein Glück direkt am Hafen versuchen. Es bleibt also spannend bis zum Schluss. Es heißt Daumen drücken, dass ich noch einen Platz auf der Fähre ergattere.
Vorerst kann man ohnehin nichts machen, also versuche ich mich zu entspannen und schlendere an der Uferpromenade entlang. Der Yalu River trennt China von Nordkorea. Bis zum anderen Ufer sind es nur wenige hundert Meter. Ein eigenartiges Gefühl, hier an der Uferpromenade zu stehen und in ein Land hineinzuschauen, dass zumindest bis jetzt für Individualtouristen völlig verschlossen ist. Die sog. friendship bridge verbindet die beiden Länder. Zwischen China und Nordkorea wird immerhin Handel betrieben, es herrscht stoßweise reger Verkehr auf der Brücke. Vereinzelt sieht man auch Tourbusse aus China. Gegen ein beachtliches Eintrittsgeld kann man an geführten Touren in Nordkorea teilnehmen, es bleibt aber fraglich, ob das was man zu sehen bekommt auch repräsentativ für das Land ist. Nordkorea ein Land von dem ich nicht viel weiß ausser Gerüchten und Vermutungen.
Ich stehe in der Mitte des Flusses auf der von den Amerikanern zerstörten Brücke direkt neben der fiendship bridge und grüble ein wenig über die Grenzen der Welt. Es fühlt sich wie selbstverständlich an, einfach vom Chinesischen Ufer aus auf die boken bridge zu gehen und in Richtung Nordkorea zu schlendern, doch in der Mitte des Flusses endet die Brücke abrupt. Was hat es mit dem Vergnügungsparka auf sich, der direkt am Nordkoreanischen Ufer aufgebaut ist? Gibt es Touristen in Nordkorea, die extra an die Grenze fahren um dort ihre Freizeit auf der Wasserrutsche oder dem Riesenrad zu verbringen? Es kommen einem Gedanken in den Kopf, dass die vermeintlichen Touristen vielleicht nur angeheuerte Nordkoreaner sind, die den Schein eines entspannten Lebens aufrecht halten sollen. Was darf man sehen, was soll man sehen?
Erinnerungen werden wach an die Tage in Tajikistan als ich entlang der Afghanischen Grenze geradelt bin. Auch damals konnte man über den Fluss hinweg in ein Land hineinschauen, das schwer zugänglich ist und von dem man meist nur negative Schlagzeilen liest. Einziger Unterschied, dass das was man in Tajikistan sieht vermutlich weit mehr mit der Realität zu tun hat, als die Uferfront in Nordkorea.
Direkt hinter meinem Hotel rangieren die LKWs und Busse, die von Nordkorea nach China kommen und umgekehrt. Ich kann den Brückenkopf und den chinesischen Grenzposten vom Fenster aus sehen. Wie lange es wohl noch dauert, bis auch Nordkorea für Individualtouristen geöffnet wird? Zu gerne würde ich einfach über die Brücke radeln und meine Tour auf dem Landweg fortsetzen…

Tag 225 – 13.September

Dandong – 1Ruhetag: bisher geradelt 17.910km; 902:16h im Sattel
Hotel

Hoffentlich zum letzten Mal darf ich mich mit dem quälend langsamen Internet in China abfinden. Immerhin gibt es WLAN im Zimmer. Mein Kontaktmann in Korea hat mir zumindest bessere Zeiten vorhergesagt. Ich versuche die Ungewissheit bezüglich des Fährtickets zu verdrängen und mache mich auf, Dandong von Oben zu sehen. Ich wandere durch den Jinjangshan Park zum Jinjang Pavillon und genieße von dort einen traumhaften Blick über die Stadt bis hinein nach Nordkorea. Leider ist es heute einmal wieder etwas trübe, sodass man nicht alles ganz deutlich erkennen kann. Gut zu sehen ist aber, dass auf Nordkoreanischer Seite nur wenige hundert Meter hinter dem Flussufer die Stadt Sinuiju zu Ende ist und erst einmal ein ewig weites Stück Nichts folgt. In Dandong schießen die Hochhäuser nur so in die Höhe, bis auf ein paar Fabrikschlote sieht man auf der gegenüberliegenden Seite nicht viel was höher als fünf Stockwerke ist.
So langsam realisiere ich nun, dass meine Fahrradkilometer in China gezählt sind. Wenn alles klappt werde ich 55Tage im Land gewesen sein, 7 Provinzen durchfahren und fast 5700km auf dem Rad verbracht haben. Ein klein wenig Stolz ist man schon auch, zu wissen, dass man bis auf die 300km in der Wüste vor Hami die gesamte Strecke von Kasachstan bis nach Korea aus eigener Kraft zurückgelegt hat. Ohne diesen unnötigen technischen Defekt hätte ich es auf genau 6000km gebracht – Tja, Zahlenspiele… Eines kann man mit Sicherheit sagen: China ist ein großes Land!
So recht weiß ich noch nicht umzugehen mit dem Gefühl, das Festland zu verlassen und mich für einen Tag auf die Fähre zu begeben. Eigentlich wollte ich ja die ganze Reise auf dem Festland bleiben. Auf der Karte ist es jetzt wirklich nicht mehr weit bis nach Wladiwostok, mit dem Russischen Visum in der Tasche könnte ich weiter in Richtung Nordosten radeln und wäre in einer guten Woche an der Grenze.
Andererseits reizt mich auch die Vorstellung, Südkorea per Rad und Zug zu erkunden. Gerade der Kontrast zu China interessiert mich nun schon brennend. Von Seoul aus geht es in ein paar Tagen mit meinen vier Österreichischen Freunden per Zug durchs Land. Ein bisschen Zeit bleibt aber noch, um die Insel, die eigentlich keine ist, auf dem Rad zu befahren.
Meine Route die mich von Kasachstan aus in Richtung Osten geführt hat gehört wohl nicht unbedingt zu den “schönsten Routen” in China. Fast alle Radreisende die ich getroffen hatte schwärmen von Südchina, doch das lag nun einmal gar nicht auf meiner Strecke. Über weite Strecken war für mich hauptsächlich die Vorstellung, irgendwann im Osten anzukommen die einzige Motivation. Es gab viele Durststrecken und ich wurde mental und physisch mehrfach ziemlich auf die Probe gestellt. Gerade nach den unvergesslichen Erlebnissen in Zentralasien hatte mir der kulturelle Bruch ziemlich zu schaffen gemacht. Aber nichts desto trotz gab es auch recht viele wirklich traumhafte Erlebnisse, die ich nicht missen möchte. Umweltverschmutzung, heftiger Verkehr und kulturelle Differenzen machten das Radeln in China nicht immer zu einem einfachen Unterfangen. Die Gesamtbilanz fällt aber trotzdem positiv aus, auch wenn ich China nicht unbedingt zu meinen Traumländern in Puncto Fahrradfahren zählen würde, auch wenn ich anderen Reisenden den Nordosten des Landes nur wärmstens ans Herz legen kann.
Für mich wird China wohl stets zwiegespalten in Erinnerung bleiben. Bis zum Schluss konnte ich mich nicht an das nervtötende Hupen im Straßenverkehr und das egozentrische Auftreten der Chinesen gewöhnen. Das Essen zählt aber sicherlich zu den besten Erinnerungen, die mir von den zwei Monaten im Land bleiben wird. Auf Verkehr und Essen lässt sich das Ganze aber natürlich nicht reduzieren. Bei all den Durststrecken die ich durchleben musste gab es auch immer wieder faszinierend Schönes und eben dieser Kontrast war bis zum Schluss Motivation genug, um jeden Tag neu zu genießen und sich überraschen zu lassen.
Ich war erstaunt, in fast zwei Monaten mit nur einer Handvoll westlicher Touristein Kontakt zu kommen. Ein bisschen mehr Chinesischkenntnisse wären sicherlich von Vorteil gewesen. Gerade hier in China wurde mir wieder eimal klar, dass das Fahrrad wirklich ein ganz besonderes Fortbewegungsmittel ist. Auf diese Weise kam ich an Orte, die in keinem Reiseführer vermerkt sind, für herkömmliche Rucksacktouristen nur äußerst schwer zu erreichen sind und trotzdem überraschend faszinierend waren. Praktisch alle westlichen Touristen, die ich getroffen hatte, waren per Zug und Flugzeug in China unterwegs und reisten primär von Großstadt zu Großstadt. Die Verwunderung die den Chinesen in den kleinen Städten und Dörfern ins Gesicht geschrieben war, wenn sie mich mit dem Rad auftauchen sahen zeigt deutlich, dass abseits der Hauptverkehrsrouten sich wirklich nur wenige westliche Touristen in China aufhalten.
Ob ich jemals einen meiner Gastgeber in Europa wieder begrüßen kann? Viele hegen den Wunsch, irgendwann einmal Europa zu bereisen. Ich würde mich freuen, wenn es dem einen oder anderen auch irgendwann einmal gelingen wird.
Für mich heißt es jetzt erst einmal Daumen drücken, dass ich morgen ein Ticket nach Korea ergattere und dann gilt es Abschied zu nehmen von dem größten Land, das ich bis jetzt bereist habe.