Tag 285 – 11.November

Vilnius – Druskininkai: 135km; 5:45h im Sattel; 6 – 11 Grad, sonnig
Hotel

Was kann es schöneres geben, als einen wolkenlosen Himmel am Morgen? Gerade nach all den grauen Tagen, die jetzt hinter mir liegen macht man fast schon einen inneren Freudensprung, wenn sich ein sonniger Tag ankündigt.
Zu früher Stunde war in Vilinus bereits erstaunlich viel los auf den Straßen. Scheinbar beginnt hier der Tag für die Mehrzahl doch ein wenig früher, als zum Beispiel in Estland, oder Lettland. Dort öffneten die meisten Supermärkte erst gegen neun…
Ich fädelte mich aber recht erfolgreich in den frühmorgendlichen Berufsverkehr ein und suchte mir den Weg aus der Stadt. Es galt noch einen längeren Anstieg zu bewältigen, bis nach knapp einer Stunde Fahrt die Ortstafel von Vilnius auftauchte und zu meiner Überraschung der Verkehr nun deutlich zurückging. Ich hatte mich am Morgen noch spontan dazu entschieden, doch auf der A4 zu bleiben und die kleinen Nebenstraßen, von denen in Litauen noch viele unbefestigt sind, auszulassen. Offenbar sollte ich diese Entscheidung nicht bereuen, denn es ging wirklich äusserst gemütlich mit kaum Verkehr dahin. Die Sonne tat sich zwar noch ein wenig schwer, ihre ganze Kraft zu entfalten, aber schon alleine der Helligkeitsunterschied hob meine Stimmung um Grade an. Alles schien gleich viel leichter von der Hand zu gehen. Nachdem ich die zähen Anstiege mit der Stadtgrenze hinter mir gelassen hatte, ging es vorrangig eben dahin. Felder, Wiesen und Wälder wechselten sich regelmäßig ab. Im dichten Wald zauberte die tiefstehende Sonne wunderschöne Lichtspiele auf den mit dichtem Moos bewachsenen Waldboden. Immer häufiger tauchten am Straßenrand kunstvoll geschnitzte Holzsäulen auf, die mit Heiligenfiguren, oder Darstellungen aus dem Alltagsleben geschmückt waren. Manchmal erinnern die Schnitzereien fast schon an Totem-Pfähle der Indianer… Ich gehe mal davon aus, dass es sich hierbei um eine recht regionale Erscheinung handelt, nachdem diese Holzschnitzereien jetzt ganz offensichtlich gehäuft auftreten. Abseits der Straße blitzen immer wieder kleinere oder größere Seen hervor. Viele Autos sind mit Schlauchbooten, entweder auf dem Dach, oder am Anhänger unterwegs. Es wird scheinbar viel gefischt in dieser Gegend.
Das traumhafte Wetter verleitet mich dann auch, am frühen Nachmittag eine kurze Pause am Seeufer einzulegen. Das Wasser ist kristallklar, bis auf ein paar Schwäne im Wasser tut sich aber nicht viel an diesem See. Dem groß ausgebauten Picknickplatz neben der Straße nach zu urteilen ist hier im Sommer deutlich mehr los.
Für heute hatte ich mir keine allzu große Distanz vorgenommen, doch trotzdem musste ich mich ein wenig sputen, weil ich mir den Grütas-Park noch vor der Dämmerung ansehen wollte. Kurz vor der Grenze zu Weißrussland wurde 2001 der Grütas-Park, oder auch Lenin-Park eröffnet. Hier werden zahlreiche Statuen, Büsten und andere Relikte der Sowjetzeit in Litauen “abgestellt”. Nach dem Ende der Sowjet-Ära hatte man in Litauen, ähnlich wie in vielen anderen Ländern, eifrig begonnen, die offensichtlichen Zeichen der Sowjetunion zu beseitigen. Ein Großteil der Denkmäler und Statuen wurde gänzlich zerstört, doch einen Teil schaffte man im Laufe der Zeit nach Grütas. Im dichten Wald stehen sie nun an einer Art Leerpfad aufgereiht, die gefallenen Helden der Sowjetunion. Leider gibt es nur bei ein paar wenigen Exemplaren einen direkten Verweis zum früheren Standort, der mit ein paar Zeilen Text und einem historischen Foto erklärt wird. Bei den meisten Büsten, Statuen oder Gedenksteinen wird nur der Ort, der Architekt und der Bildhauer genannt. An der Präsentation könnte man hier wirklich noch ein wenig arbeiten. Ein bisschen abstrus wirkt die ganze Anlage dann doch, gerade in Kombination mit dem Miniaturzoo und dem Kinderspielplatz in Mitten ausgemusterter Kriegsgeräte. Aber vielleicht passt es so auch ganz gut… die Sowjetzeit – entsorgt, abgestellt, aber doch irgendwie vor dem Vergessen bewahrt. Aus dem ursprünglichen Kontext entfernt wächst nun sprichwörtlich langsam Gras über die Geschichte.
Kurz bevor es zu dämmern beginnt habe ich meinen Rundgang durch den Park dann auch beendet und ich mache mich auf den Weg in Richtung Druskininkai. Von hier aus ist es nun nicht mehr weit bis zur Grenze nach Polen, dort wird dann zum letzten Mal für diese Reise die Uhr umgestellt – fast schon zuhause…

Tag 286 – 12.November

Druskininka – Wydminy: 163km; 7:04h im Sattel; 4 – 5 Grad, bedeckt / Nebel
Pension

Gestern Abend wurde mir noch von von der netten Wirtin ein Frühstück versprochen, doch heute Morgen war das Gasthaus dunkel und niemand war zu sehen. Es dauerte ein wenig, bis ich den Hausherrn aus dem Bett geläutet hatte, um zumindest mein Rad aus der Garage holen zu können. Leicht verschlafen, nur mit einem Bademantel bekleidet und etwas wackelig auf den Beinen schloss er mir die Garage auf, kam dann aber kurz darauf noch mit einer Hand voll Äpfeln und einem Joghurt vorbei und wünschte mir eine gute Reise.
Los gehts – diesmal wieder ohne Sonne, mit leichtem Nebel und feuchtkühlen vier Grad plus… Druskininka scheint ein sehr beliebter Ort für Wellness-Urlaube zu sein. An fast jeder Straßenecke wird SPA beworben und die Dichte an gehobenen Hotels ist beachtlich. Das größte Hotel aber, ein 9-stöckiger Bau aus den späten 1950er Jahren steht aber schon seit ein paar Jahren leer, die Fenster sind vernagelt und Gras wächst schon auf der Auffahrt. Direkt daneben sind aber schon zwei neue, zeitgemäßere Hotels eröffnet worden. An Gästen scheint es dem Ort nicht zu mangeln. Am Ortsende gibts dann auch noch eine Ski-Arena, die das ganze Jahr über geöffnet hat und Winterspaß auch im Sommer verspricht. Alles in allem ein gewaltiger Kontrast zu all dem, was ich bisher in Litauen gesehen habe. Vom schlichten und ärmlichen Leben auf dem Land ist hier nichts mehr zu spüren, doch das ändert sich dann auch wieder schlagartig, als ich die Ski-Arena hinter mir lasse und wieder in die Wälder eintauche. Bis zur Polnischen Grenze ist es nicht mehr weit und ich habe mir einen etwas versteckten Grenzübergang irgendwo im Wald ausgesucht. Es geht also weg von der Hauptstraße, anfangs noch ein wenig Asphalt, doch dann – wie erwartet – Sandstraße für gut 10km, dann noch ein paar Meter Asphalt und dann taucht auch schon das Grenzschild von Polen auf. Mitten im Wald kann man noch eine Schneise erkennen, in der früher vermutlich der Grenzzaun verlief, jetzt in Zeiten der Europäischen Union gehts ohne Schranke, ohne Grenzhäuschen einfach “rüber”. Schlagartig wird die Straße gleich um grade schlechter, doch das bessert sich, als ich wieder aus dem Wald draussen bin.
Polen – das letzte Land, das mich noch von Deutschland trennt… Die Uhr wird jetzt zum letzten Mal zurückgestellt, jetzt bin ich wieder in der Mitteleuropäischen Zeitzone angelangt. Schon die ersten Kilometer in Polen versprechen eine recht abwechslungsreiche Fahrt bis nach Danzig. Es gibt viel zu sehen. Immer wieder mal gehts durch kleinere Dörfer, an den Hausfassaden weht stolz die Polnische Fahne im Wind, der dieses Mal gut für mich steht. Auch hier wird noch eifrig das verbliebene Laub von den Wiesen entfernt und alles für den Winter vorbereitet.
In Sejny, dem ersten größeren Ort, gibts erst mal Landeswährung vom Geldautomaten, der mich gleich mal mit einer deutschen Menüführung begrüßt. Jetzt kanns also losgehen! Als Mittagsdestination hatte ich mir Suwalki ausgesucht. Hier führt die A8, die Hautverkehrsachse von Litauen nach Polen durch. Vom Ort sieht man aber aufgrund des dichten Nebels nur sehr wenig. Das feuchtkalte Wetter hatte meine Glieder schon ein wenig eingefroren und ich war froh, endlich mal wieder im Warmen sitzen zu können. Interessantes Detail am Rande… Suwalki ist offenbar der Ort mit der niedrigsten Durchschnittstemperatur in ganz Polen. Da überrascht es auch nicht, dass das Thermometer selbst Mittags nicht über fünf Grad hinauskommt.
Bis auf ein paar Ausreisser bewege ich mich heute fast nur westwärts vorwärts. Im Gegensatz zu den Baltischen Ländern gehts jetzt auf kleineren Straßen voran, der Verkehr hält sich erfreulich in Grenzen und die Strecke ist überraschend abwechslungsreich. Mal gibts ein paar fiese Kletterpassagen, dann wieder viel flaches Land und zur Wiedergutmachung auch nette Abfahrten. Große und kräftige Alleebäume säumen die Straße, links und rechts tauchen immer öfter kleinere und größere Seen auf. Die Zeit der langen Geraden ist nun zum Glück vorüber. In den Wäldern bringen die Lärchen mit ihrer intensiven orange-Färbung noch ein wenig Farbe in den sonst so grauen Tag. Auf den Feldern wird hier in Polen noch eifrig gearbeitet. Es wird Mist und Gülle ausgefahren und manche Äcker werden gerade umgepflügt. Dem Geruch nach zu urteilen muss es hier einige Schweinezüchter geben, ansonsten sieht man ähnlich wie in Litauen auch viele Kühe einzeln angekettet auf den Wiesen grasen. Immer wieder begegnen mir ein paar Einheimische auf Fahrrädern, die meistens Einkäufe nach Hause bringen. Die Blicke sind erst mal ein wenig skeptisch, aber wenn ich freundlich grüße, schnellt auch gleich eine Hand zum Gruß empor und ein breites Lächeln zieht übers Gesicht.
Bis ich schließlich in Wydminy ankomme muss ich noch einige Kilometer abspulen, aber mit ein wenig Rückenwind und der abwechslungsreichen Umgebung vergeht die Zeit wie im Flug und die Kilometer schmelzen rasch vor sich hin. Konditionell stehe ich momentan wirklich gut im Saft. Tagesetappen von über 130km werden jetzt langsam schon zur Gewohnheit und machen nicht einmal mehr müde. Praktisch zeitgleich mit Einbruch der Dunkelheit komme ich in Wydminy an und suche erst mal eine Herberge. Die Pension Skorpion ist meine erste Wahl, doch hier stehe ich vor verschlossenen Türen. Alles ist dunkel, doch bis ich die Schilder im Fenster versucht habe zu entziffern fährt auch schon die Besitzerin vor. Welch ein Glück – die Pension öffnet erst um 16 Uhr Ortszeit und ich bin gerade mal um 15:55 Uhr angekommen. Besser hätte man es nun wirklich nicht planen können. Das Preisniveau hier in Polen entspricht wieder mehr meinem Reisebudget und so ich gönne mir um sagenhafte 1,10 EUR gleich mal ein lokales Bier, bevor es unter die Dusche geht. Der Elektrolyt-Haushalt muss wieder ins Gleichgewicht gebracht werden!

Tag 287 – 13.November

Wydminy – Olsztyn: 150km; 6:27h im Sattel; 4 – 7 Grad, bedeckt
Jugendherberge

Als ich gestern Abend meine Polnische Straßenkarte zum ersten Mal vor mir ausgebreitet hatte, änderte ich spontan meine zuvor angedachte Route. Nicht weit von Wydminiy befindet sich nämlich das ehemalige Führerhauptquartier, die berüchtigte Wolfsschanze. Nicht wenig hatte man davon in den Geschichtsbüchern und diversen Dokumentationen darüber gelesen / gesehen, sodass ich mir nun auch persönlich ein Bild machen wollte. In der Gegend in der ich momentan unterwegs bin, das ehemalige Ostpreussen, spürt man grundsätzlich relativ wenig vom früheren deutschen Einfluss. Ab und zu kann man an der einen oder anderen Hausfassade noch Hinweise auf deutsche Geschäfte entziffern, von den zweisprachigen Ortsnamen, wie sie in jeder Karte verzeichnet sind, ist auf der Straße aber nichts zu spüren. Von Wydminy gehts nun also in Richtung Ketrzyn (Rastenburg), von wo aus es nur noch ein paar Kilometer bis nach Görlitz, dem Sitz der Wolfsschanze sind. Ich wähle eine “Abkürzung” durch den Wald und holpere gut fünf Kilometer über grobes Kopfsteinplaster bis die ersten moosüberwucherten Betonbauten im Wald auftauchen. Bis auf den nackten Beton ist nichts mehr übrig. Die Wehrmacht hatte kurz vor Aufgabe des Führerhauptquartiers noch versuch, sämtliche Baukörper zu sprengen, doch bei derart viel Beton war dies nur bedingt erfolgreich. Sämtliche noch verwertbaren Gegenstände wurden offenbar im Laufe der Zeit von den Einheimischen, oder der Sowjetischen Armee demontiert. An der Schranke zum Hauptgelände werde ich in perfektem Deutsch willkommen geheissen. Über 30 Prozent der angeblich 200.000 jährlichen Besucher stammen offenbar aus Deutschland, sodass auch das Personal dementsprechend geschult ist. Heute ist der Parkplatz aber verwaist und ich mache mich auf, das Gelände kurz zu erkunden. Ausgestattet mit einem Lageplan stolpere ich nun durch das Waldgelände und mache mir mal ein Bild vom einstigen Stolz Nazideutschlands. Bis auf ziemlich viel zerborstenen Beton bekommt man aber nichts zu Gesicht. Von einer historischen Aufarbeitung, oder einer nähergehenden Erklärung ist man hier noch weit entfernt und so gehts vorbei an unzähligen Bunkerbauten, die bei näherer Betrachtung ziemlich wenig Raum im Inneren geboten hatten. Das Verhältnis von Volumen zur nutzbaren Fläche steht irgendwie in keinem Verhältnis. Meterdicke Aussenwände, dann noch ein innerer Betonkern und dann bleibt fast nichts mehr übrig für die Aufenthaltsräume. Da verwundert es auch nicht mehr sonderlich, dass die Bunker meist nur für wenige Personen gedacht waren.
Den wichtigste Ort der ganzen Anlage allerdings muss man unter all dem Herbstlaub erst einmal finden… die ehemalige Baracke in welcher der Anschlag auf Adolf Hitler nur knapp gescheitert war. Eine Inschrift am Boden erinnert noch daran, von der Baracke selbst ist nur noch das Betondach übrig.
Das Restaurant und das Hotel der SS-Offiziere ist scheinbar noch erhalten geblieben und wird nun ebenfalls wieder als Restaurant und Hotel weiterverwendet…
Ein wenig nachdenklich schwinge ich mich wieder aufs Rad und rolle weiter in Richtung Westen. Ein bisschen eigenartig finde ich es schon, dass man auch hier die Überreste der Geschichte buchstäblich im Wald begräbt und scheinbar darauf wartet, dass die Natur in wenigen Jahren die letzten Zeugnisse überwuchert hat.
Für meine heutige Etappe bis nach Olsztyn (Allenstein) hatte ich mich wieder für ein paar untergeordnete Landstraßen entschieden. Zum Radfahren ist die Gegend hier einfach traumhaft. Abgesehen vom etwas tristen Wetter ist es eine wahre Freude durch die unzähligen Baumalleen zu radeln. Eichen, Ahorn, oder Buchen säumen die Straße. Manchmal stehen die Bäume derart dicht, dass kaum ein Blick zur Seite möglich ist. Es geht munter rauf und runter und die Straße schlängelt sich vorbei an zahlreichen Seen. Autoverkehr ist praktisch nicht vorhanden, nur alle paar Minuten kommt mal ein einzelner Wagen vorbei. Der Wind steht immer noch gut und so gehts zielstrebig in Richtung Olsztyn. Hier hatte ich mir im Vorfeld eine günstige Unterkunft ausgekundschaftet und scheinbar soll es im Ort auch einiges zu sehen geben. Die letzten 20 Kilometer muss ich dann aber doch noch auf die kräftig befahrene Bundesstraße, doch dafür kommt der Wind jetzt schön von hinten. Zeitgleich wie gestern komme ich im Zentrum an. Die Unterkunft meiner Wahl hat leider keine Plätze mehr, da die Schlafsäle momentan renoviert werden und nur noch teure Doppelzimmer zu haben sind. Der Rezeptionist schickt mich aber dann weiter zur nahegelegenen Jugendherberge wo ich umgehend ein überaus günstiges Bett bekomme. Beim abendlichen Spaziergang durch die Altstadt macht der Ort einen recht sympathischen Eindruck auf mich. Die erste polnische “Großstadt”, die ich zu Gesicht bekomme. Stattliche Häuser und hoch aufragende Kirchen prägen den Altstadtkern. Schlussendlich treibt mich dann aber doch der Hunger in eines der umliegenden Lokale und der Drang nach Stadtbesichtigung im Dunkeln schwindet umgehend.
Bis nach Gdansk (Danzig) ist es jetzt nicht mehr weit. Wenn es morgen gut läuft, werde ich sogar binnen einer Tagesetappe dort ankommen, doch das wird sich wohl erst im Laufe des morgigen Tages zeigen. Fürs Erste bin ich aber schon einmal sehr begeistert vom Radeln in Polen. Im Gegensatz zu Russland und den Baltischen Ländern tut sich jetzt wirklich viel unterwegs. Ein bisschen Sonne könnte nicht schaden, aber auch so macht es richtig Spaß, durch die malerischen Alleen zu pedalieren und sich von den vielen kleinen Dörfern überraschen zu lassen.