Tag 290 – 16.November

Gdansk – Slawno: 154km; 6:25h im Sattel; 2 -5 Grad, bedeckt
Hotel

Es ist Sonntagmorgen und die Stadt ist wie ausgestorben. Kaum Autos auf der Straße und die Gehwege menschenleer. Nur ein paar Möwen kreisen über mir, der einzige Hinweis darauf, dass das Meer nur einen Steinwurf entfernt ist. Die Sicht ist leider so schlecht, dass ich auch nicht im Zurückblicken das Meer erkennen könnte. Vom Altstadtkern aus geht es von nun an nämlich stetig bergauf. Wenn auch sehr gemächlich, so nähere ich mich fast wieder der Höhe an, auf der ich mich in den Masuren bewegt hatte. Das Thermometer zeigt feuchtkalte zwei Grad und schon nach einer halben Stunde Fahrt werden meine Zehen kalt. Na das kann ja heiter werden…
Rasch habe ich das Stadtgebiet von Gdansk hinter mir gelassen und tauche nun wieder ein in die altbekannte graue Landschaftsmonotonie. Die Alleen werden lockerer und streckenweise gibt es gar keine Bäume mehr neben der Straße. Die Sonne lässt sich auch heute den ganzen Tag über nicht ein einziges Mal blicken. Einziger Lichtblick ist der angenehm kräftige Rückenwind.
Im Bezirk Pommern, in dem ich mich momentan befinde, werden heute offenbar Regionalwahlen abgehalten. Die zahlreichen Wahlplakate sind mir in Gdansk bereits aufgefallen, hier im Umland nimmt die Dichte sogar noch zu. In fast jedem Dorf das ich durchfahre stehen kleinere Gruppen vor den Wahllokalen. Meist wird der Gang zur Kirche mit dem Wahlgang verbunden, oder verbindet man den Wahlgang mit einem Kirchgang? Wie auch immer, die Parkplätze vor den Kirchen sind gut besucht – vermutlich aber alles Einheimische, welche die 500m bis zur Kirche nicht zu Fuß gehen wollten. Die meisten Dörfer sind nämlich nicht sonderlich groß, binnen wenige Minuten ist man von einem Ende zum anderen geradelt. Aber auch hier misst man dem Auto eine enorm hohe Bedeutung zu. Selbst wenn das Wohnhaus noch lange nicht fertiggebaut ist, die Fassade zum Beispiel schon seit Jahren auf die Verputzarbeiten wartet, vor dem Haus steht in der Regel ein blitz blank poliertes Auto. Die Selbstbedienungs- Waschanlagen, welche 24 Stunden am Tag geöffnet haben sind auch an diesem tristen Herbstsonntag gut besucht. Mein Rad sollt eigentlich auch mal wieder gewaschen werden, doch bisher war es eigentlich fast immer so, dass es am Folgetag meiner Fahrradwäsche zu regnen begonnen hatte. Nachdem ich Regen im Moment weiß Gott nicht brauchen kann, fahre ich einfach noch mit dem Staub der letzten 3000km durch die Gegend.
Von Gdansk aus fahre ich heute das längste Stück auf der B 211 und stoße erst kurz vor Slupsk wieder auf die Schnellstraße, die direkt bis nach Stettin führt. Kurz hinter Slupsk überfahre ich scheinbar die Bezirksgrenze, denn die Wahlplakate sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Endlich kann man wieder die Umgebung genießen, ohne laufend in mehr oder minder attraktive Politikergesichter blicken zu müssen. Auch wenn es sich scheinbar nur um Regionalwahlen handelt, ein bisschen mehr Mühe für gute Portraitaufnahmen könnte man sich schon geben. Und wenn schon das Bild nicht gut ist, dann zumindest noch ein wenig Retusche…
Ich befinde mich nun also in Westpommern und bin auf dem besten Weg die Ostsee zu erreichen. Morgen sollte ich am Nachmittag schon am Strand stehen können. Erinnerungen an meine ersten Kilometer in Ungarn und Serbien kommen immer wieder auf. Am Straßenrand häufen sich die toten Tiere. Einige Füchse, Eichhörnchen, Katzen und Wildschweine bekomme ich heute zu Gesicht, die bei Versuch, die Straße zu überqueren die Macht des motorisierten Verkehrs unterschätzt haben. Gegen Nachmittag wird der Streckenverlauf wieder ein wenig flacher. Den ganzen Vormittag über gings kontinuierlich auf und ab. Erstaunlich, dass man auch in dieser Umgebung, die man gemeinhin als eher flach einschätzen würde dann doch beachtlich viele Höhenmeter sammelt.
Trotz weiterhin gutem Rückenwind beschieße ich in Slawno eine Unterkunft zu suchen. Gestern noch hatte ich drei potentielle Herbergen ausgekundschaftet, die ich nun in der Reihenfolge der Zimmerpreise abklappere. Zum Schluss bleibt mir dann aber gar keine Wahl, denn die ersten beiden hatten offenbar schon die Wintersaison eingeläutet, also Fenster und Türen verriegelt. Im einzigen Hotel des Ortes kann ich dann zumindest noch ein wenig über den Preis verhandeln. Ich hatte die Wahl eines Hotels dann auch nicht bereut, denn am frühen Abend begann es dann noch zu regnen und das obwohl ich mein Rad nicht einmal gewaschen hatte…

 

Tag 291 – 17.November

Slawno – Niechorze: 150km; 6:51h im Sattel; 6 – 7 Grad, bedeckt
Hotel

Nachdem es fast die ganze Nacht geregnet hatte empfing mich der dunkle Morgen immerhin trocken. Ein Glück, denn nun konnte ich meine Alternativroute in Angriff nehmen. Gestern hatte ich noch ein wenig die Karte studiert und mir eine Route in Küstennähe ausgekundschaftet. Sicherlich nicht unbedingt der direkteste Weg, doch ich versprach mir davon ein paar ruhige und abgeschiedene Strecken. Immerhin hatte ich bisher fast nur gutes von der polnischen Ostsee gehört, doch gesehen habe ich bisher noch nichts davon. Nun gings also erst einmal “hinauf” in Richtung Darlowo. Dort angekommen war die Neugierde dann doch zu groß und ich unternahm noch einen kleinen Abstecher bis an die Küste. Der Ort selbst liegt gut fünf Kilometer von der Küste entfernt, besitzt allerdings mit einem Kanal schon fast einen Meerzugang. Am Meer selbst findet sich dann noch einmal ein kleiner Fischerort, der offenbar im Sommer eine große Touristenattraktion darstellt. Die Souvenierläden und die Imbissbuden sind nun in Planen eingepackt, vor dem nahenden Winter geschützt und warten auf die kommende Saison. Am Kanal gehts wieder zurück nach Darlowo und nun weiter in Richtung Koszalin. Ich schlage also einen ordentlichen Haken um die Bundesstraße zu vermeiden, werde dafür allerdings mit äusserst idyllischen Straßen verwöhnt. Was sich anfangs recht simpel anhört entpuppt sich vor Ort als relativ schwierig. Ich radle nun schon seit einiger Zeit relativ nahe an der Küste, konnte aber – abgesehen vom Abstecher bei Darlowo – noch nicht wirklich einen Blick aufs Meer werfen. Es liegen stets in paar Kilometer zwischen Straße und Küste. Doch so einfach gebe ich mich nicht geschlagen… Ich biege von der Landstraße ab und holpere nun auf einer Art befestigtem Feldweg weiter. Der Abstecher hatte sich gelohnt, denn nun komme ich nach Lazy und kann von dort aus gut 10km auf einem etwa 500m breiten Landstück radeln. Das Meer kann man nun schon riechen, doch um einen Blick darauf zu werfen muss ich das Rad abstellen und über die Dünenkrone wandern. Ein traumhaft schöner Sandstrand liegt hinter den Dünen versteckt. Es gibt kaum Wellengang und auch das Ufer ist fast völlig frei von Treibgut. Der Sand ist noch nass vom nächtlichen Regen und kurzzeitig hat es sogar den Anschein, dass der Himmel ein wenig aufreisst, doch das war offenbar nur ein sehr kurzes Intermezzo, denn nun beginnt es statt dessen leicht zu regnen. Ich lasse mir die Stimmung dadurch aber nicht verderben und radle munter weiter. mal blitz rechts das Meer durch die Baumreihen hindurch, mal gibt das Schilf auf der Linken den Blick frei auf den angrenzenden See.
Von nun an gehts immer parallel zur Küste dahin. Autoverkehr gibts hier fast keinen mehr und nachdem ich bei Mrzezyno noch einmal von der Hauptstraße abbiege lande ich auf grobem Kopfsteinpflaster, nun völlig ohne Verkehr. Den eigentlichen Grund dafür sollte ich nach gut 20 Minuten Fahrt erfahren. Auf der Karte verläuft die Uferstraße ohne Unterbrechung bis nach Rewal, doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine Sackgasse, da etwa auf halber Strecke sich eine Kaserne befindet. Vier Wachleute geben Acht, dass die Schranke nur von autorisierten Personen passiert wird, doch zum Glück gibts einen Schleichweg um die Kaserne herum. Es geht über lockeren Waldboden zurück auf eine Kiesstraße, die dann nach ein paar Kilometern im Wald wieder auf die Kopfsteinpfaster-Straße trifft. Für den Rest des Tages werde ich noch einmal ordentlich durchgeschüttelt, doch im Grunde ist dies fast nebensächlich, weil die Umgebung ohnehin meine volle Aufmerksamkeit erhält. So in etwa hatte ich mir die polnische Ostsee vorgestellt. Mein kleiner Umweg hatte sich voll und ganz ausgezahlt. Abgeschieden, ruhig und völlig idyllisch gehts entlang des Küstenstreifens dahin. Aufgrund der vielen Pausen unter Tags holt mich am Abend dann fast noch die Dämmerung ein.
In Niechorze hatte ich mir gestern noch ein Zimmer reserviert, doch offenbar war dies nicht bis zu den Angestellten vorgedrungen. Das Hotel schien ausgestorben, doch nach einem kurzen Telefonat erschien dann doch ein überaus gut gelaunter Rezeptionist. Auf Gäste war er heute aber nicht eingestellt, auch die Zimmer waren nicht beheizt und zu allem Überfluss waren offenbar gerade die Thermostate defekt. Während ich mich am einzigen funktionierenden Heizkörper im Gang aufwärmte, arbeiteten die beiden Hotelangestellten eifrig daran, die Heizung in meinem Zimmer zum Laufen zu bringen.