Tag 292 – 18.November

Niechorze – Glienke: 159km; 6:41h im Sattel; 5 – 7 Grad, bedeckt / Nieselregen
Pension

Zur Versöhnung für das kalte Zimmer von gestern gabs zu früher Stunde ein überaus ausgiebiges Frühstück im angrenzenden Lokal. Der Kellner erzählt mir, dass Herbst- / Wintertourismus auch hier im Ort nicht sonderlich stark verbreitet ist, trotzdem hat das Hotel den gesamten Winter über geöffnet. Hauptsächlich werden aber anstehende Reparaturen, oder Umbauten durchgeführt, Gäste verirren sich nur äusserst selten ins Hotel.
Der Ort Niechorze, ein klassischer Sommerbadeort, besteht zum größten Teil aus Hotels, Pensionen und Ferienhäusern, welche nun fast alle komplett geschlossen sind und auch sämtliche dazugehörigen Anlagen befinden sich schon in Winterstarre. Trotzdem gibt es noch ein paar unerschrockene Händler, die auf der zentralen Flanierstraße Sandspielzeug, Luftmatratzen und Sonnenschirme verkaufen. immerhin wurde aber das sommerliche Sortiment um Daunenjacken, Mützen und Handschuhe erweitert. Eine eigenartige Stimmung herrscht an solchen Orten, die nur zu einer ganz speziellen Zeit des Jahres gut besucht sind.
Noch ein letzter Blick aufs Meer, dann suchte ich mir wieder den Weg zurück auf die Bundesstraße, die mich heute in Richtung der Deutschen Grenze führen sollte. Für heute hieß es also Abschied nehmen von Polen. Auf der relativ schwach befahrenen Bundesstraße gehts ziemlich zügig in Richtung der Insel Usedom. Ein kleiner Teil der Insel ist noch Polen, der größere Teil allerdings schon Deutschland. Für die Bewohner von Swinoujscie, dem polnischen Ort auf der Insel, gibt es eine kostenlose Fährverbindung über den Kanal. Alle 20 Minuten legt ein Schiff ab und bringt Fußgänger, Radfahrer und PKWs aufs gegenüberliegende Ufer. Noch einmal heißt es also übersetzen… Gerade eben verlässt ein großes Fährschiff den Hafen in Richtung Ystad, oder Koppenhagen – man könnte also auch von hier aus gleich weiter in den Norden starten. Vielleicht ein ander mal, jetzt gehts mal erst zurück in die Heimat!
Interessanterweise hatte ich den ganzen Tag über erstaunlich wenige Fahrzeuge mit deutschen Kennzeichen gesehen, was man eigentlich im grenznahen Gebiet erwarten würde. Doch obwohl man nun schon fast in Deutschland ist, sieht man auch hier im Ort nur äusserst wenige Autos mit deutschen Kennzeichen. Einziger Hinweis auf die Grenznähe sind die Hinweistafeln in den Geschäften, dass hier der Euro als Zahlungsmittel akzeptiert wird – mal ganz was neues, weil man sonst sehr auf die Landeswährung setzt. Ich tausche noch schnell meine letzten polnischen Münzen gegen Gebäck und radle dann gleich weiter in Richtung Grenze. Schon nach ein paar Minuten Fahrt ist der “Grenzfluss” erreicht. Ein kleiner Graben, auf der einen Seite ein deutscher Grenzstein, auf der anderen Seite ein polnischer.
Und dann… praktisch aus dem Nichts heraus fange ich plötzlich an zu lachen und gleichzeitig werden die Augen feucht… Völlig überraschend überkommt mich ein Gefühl der puren Freude. Wieder zurück in Deutschland… auch wenn es noch gut 1000km sind, bis ich wirklich zuhause bin, aber zum ersten Mal seit 10 Monaten wieder deutschen Boden zu betreten löst offenbar doch tief liegende Gefühle aus. Psychologisch betrachtet würde man das wahrscheinlich als emotionale Überforderung beschreiben, ich selbst fand es rührend und überraschend gleichzeitig. Immer wieder überkommt mich ein Lachanfall und die Augen tuen es dem gerade einsetzenden Nieselregen gleich. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass ein simpler Grenzübertritt derart intensive Gefühle hervorrufen kann. Plötzlich wirkt alles wieder so vertraut, die Zusatztafeln unter den Verkehrsschildern, die Firmenreklamen an den Gartenzäunen, die Werbeplakate etc. – alles kann man nun wieder lesen und muss sich deren Bedeutung nicht mehr konstruieren. Landschaftlich ändert sich erwartungsgemäß nicht viel, ausser dass nun die Alleebäume von einer Leitplanke geschützt werden – oder die Verkehrsteilnehmer vor den Alleebäumen, je nachdem wie man es sehen will.
Nach etwa einer Stunde Fahrt erreiche ich Usedom, einen kleinen beschaulichen Ort auf der gleichnamigen Insel. Viel tut sich nicht, doch immerhin hat ein kleines Cafe am Ortsrand geöffnet. Zum ersten Mal wieder in der eigenen Sprache etwas bestellen und mit dem Personal ein wenig plaudern – direkt ein wenig ungewohnt, aber unbeschreiblich angenehm. Willkommen zurück, denke ich mir.
Etwas, was ich in den letzten Monaten oft wirklich sehr vermisst hatte, war das ungehemmte Reden in der eigenen Sprache. Es scheint, dass zumindest für mich die sprachliche Verwurzelung doch noch sehr stark ist, dementsprechend gut fühlt es sich nun wieder an, sich mit praktisch jedem wieder unterhalten zu können und wenn es nur ein paar beiläufige Worte an der Kasse im Supermarkt sind.
Um morgen Abend in Berlin ankommen zu können muss ich heute noch ein paar Kilometer zurücklegen. Dabei kommt mir zu gute, dass hier im “Westen” die Sonne spürbar später untergeht. In den vergangenen Wochen habe ich mich doch kräftig in Richtung Westen bewegt, dorthin wo die Sonne untergeht, und nachdem ich immer noch zur selben Zeit aufstehe bleibt mir zum Schluss des Tages einfach noch mehr. Vor einer Woche wäre es bereits stockdunkel gewesen, doch nun erreiche ich noch in der ansetzenden Dämmerung eine kleine Pension, gut 15km von Neu Brandenburg entfernt. Dieses Mal ist das Zimmer angenehm temperiert und ich kann mich in der angrenzenden Gastwirtschaft mit einem lange ersehnten Weizenbier belohnen. Von diesem Moment habe ich bereits in China geträumt… Im Hintergrund läuft Antenne Bayern im Radio und vor den großen Fenstern durchschneiden ab und an ein paar helle Lichtkegel das Schwarz der Nacht. Schön, wieder zurück zu sein!

Tag 293 – 19.November

Glienke – Berlin: 160km, 7:07h im Sattel; 3 – 5 Grad, bedeckt
Privater Gastgeber

Den westlichsten Punkt meiner Reise habe ich nun erreicht, was man beim morgendlichen Start gleich deutlich zu spüren bekommt. Ich radle eine halbe Stunde in der Dunkelheit, bevor es langsam hell wird. Sonne gibt es auch heute keine zu bewundern, aber daran habe ich mich jetzt ja fast schon gewöhnt. Die drei Grad Aussentemperatur fühlen sich dank der niedrigeren Luftfeuchtigkeit weit wärmer an, als in den letzten Tagen. Heute gilts also… der Sturm auf Berlin beginnt. Ich habe mir für die heutige Etappe nicht sonderlich viel Mühe gegeben und beschlossen, hauptsächlich der B96 zu folgen. Von Usedom aus würde zwar ein Radweg nach Berlin führen, doch aufgrund der ziemlich feuchten Witterungsverhältnisse der vergangenen Tage zog ich den trockenen und v.a. festen Untergrund der Bundesstraße vor. Gerade im Herbst sind die vielen Feldwege doch immer ein bisschen riskant zu befahren und im Grunde hieß das Tagesziel heute schlichtweg BERLIN.
Streckenweise wurde es ziemlich eng auf der B96 und hinter mir bildete sich immer wieder eine längere Schlange an LKWs oder unentschlossenen PKWs, doch das störte nicht weiter. Immer wieder konnte man dann auch auf einen schmalen Radweg parallel zur Straße ausweichen. Manchmal ist das zwar ein wenig mühsam, weil man die Augen ziemlich offen halten muss, um die Abzweigungen zu erkennen, aber prinzipiell ist es schon eine feine Sache, wenn man völlig ungestört neben dem Hauptverkehr radeln kann.
Es geht heute durch die Mecklenburgische Seenplatte, ähnlich wie die Masuren in Polen auch eine recht hügelige Gegend. Von den vielen Seen bekomme ich aber leider nur ein paar wenige zu Gesicht, die meisten verstecken sich hinter den vielen Hügeln und im dichten Buchenwald. Im graufahlen Licht des Tages ist das rotbraune Laub der Buchenwälder ein richtiges Highlight. Das Farbspektrum ist sonst – wie schon in den vergangenen Tagen – sehr minimalistisch.
Der seit ein paar Tagen vorherrschende Ostwind unterstützt mich auch heute noch ein wenig und so komme ich recht gut voran. Die B96 wird zwischendurch zur Autobahn, ich weiche über die Dorfstraßen aus und Berlin rückt immer näher. Noch kurz ein Mittaggsstop in einer Dorfkantine, die hauptsächlich von den örtlichen Handwerkern besucht wird. Sämtliche Lokale bisher öffneten erst ab 11:30 die Küche, hier hat die Küche nur bis 13 Uhr geöffnet, fängt dafür schon um 6 Uhr morgens an… da ticken die Uhren noch ein wenig anders.
Auf gehts in die finalen 50km bis in die Bundeshauptstadt. Kurzzeitig beginnt es noch einmal leicht zu regnen, doch nachdem sich das in den letzten Tagen auch recht schnell wieder aufgelöst hat, hoffte ich einfach, dass es heute sich ähnlich verhalten würde. Viele Ortsnamen auf den Wegweisern wirken bereits sehr vertraut. Es geht durch Oranienburg und man hat das Gefühl, fast schon da zu sein. Unglaublich viele Leute sind mit dem Fahrrad unterwegs, man sieht fast jede Altersgruppe mit dem Rad. Im ersten Moment sieht es fast so aus, als ob im Vergleich zu den bisher bereisten Ländern in Deutschland das Rad am populärsten ist. Da ist es nun auch logisch, dass das Netz an Radwegen, oder eigenen Fahrradspuren sehr dicht ist. Manchmal muss man sich zwar mit den Fußgängern den etwas holprigen Gehsteig teilen, doch immerhin gibt es ein Empfinden für Radfahrer im Straßenverkehr.
Am frühen Nachmittag ist die Stadtgrenze von Berlin erreicht. Ich komme von Norden aus in die Stadt und überquere mit der Stadtgrenze auch gleichzeitig die frühere Grenze des Eisernen Vorhangs. Erst mal gehts noch durch Buchenwälder doch dann beginnt schön langsam die Stadt. Zum ersten Mal gehts in eine Großstadt, die mir nicht völlig fremd ist. Die Stadteinfahrt von Norden ist für mich zwar eine neue Erfahrung, doch nachdem ich Charlottenburg erreicht hatte, kam mir alles wieder sehr vertraut vor. Am Ernst Reuter Platz fädle ich mich in die zentrale Achse Berlins ein, drehe eine Ehrenrunde um die Siegessäule und steuere dann das Brandenburger Tor an. Hundertfach schon gesehen, aber heute war das alles irgendwie viel spezieller. Mit dem Rad durchs Brandenburger Tor und dann ab durch die Mitte. Entlang der Friedrichstraße gehts in Richtung Kreuzberg, zum Görlitzer Park. Hier werde ich schon von Manni erwartet, der mich – wie so oft schon – für ein paar Tage in der Stadt aufnehmen wird.
Ein herrliches Gefühl, nach fast vier Wochen auf dem Rad in Berlin angekommen zu sein. Was mich immer noch am allermeisten bewegt ist die Tatsache, dass man plötzlich wieder versteht, was um einem herum gesprochen wird. Noch wirkt das alles ein wenig ungewohnt, doch ich empfinde das einmal als äusserst angenehme Irritation. Nun stehen ein paar Tage Erholung in der Stadt an. Es gilt ein paar Freunde zu besuchen und Energie zu tanken für die letzte große Etappe bis nach Bayern. Von Moskau bis nach Berlin in nur 27 Tagen, das überrascht mich selbst ein wenig, aber wenn das Rad mal läuft sollte man es nicht bremsen. Der Winter kündigt sich an und es wird langsam Zeit heimzukommen!