Tag 34 – 06.März

Ünye – Ordu: 77km; 4:20h im Sattel; 15 Grad, Regen / bewölkt
Warmshowers (Ayse und Serdal)

Zum allerersten Mal auf meiner bisherigen Reise war ich nervlich sehr gereizt. Seit gestern funktioniert mein Fahrradcomputer nicht mehr. Alle paar Sekunden löscht er die Tagesdaten. Ein Telefonat mit der Serviceline brachte mich auch nicht weiter. Spontan versuchte ich in Georgien eine Adresse aufzutreiben, um den Ersatzcomputer dorthin schicken zu lassen. Ich telefonierte dazu mit einem Hostel in Tiflis, dort wurde mir aber davon abgeraten, ein Paket nach Georgien zu schicken, da die Post sehr unzuverlässig sein soll. Dies deckte sich mit einigen Erfahrungsberichten im Internet. Also begrub ich diesen Plan wieder. Zu allem Überfluss regnete es auch noch… Na gut, also mal ein Tag mit schlechter Laune, so was solls ja auch geben.
Doch nach etwa 20km treffen wir plötzlich auf eine kleine Gruppe Radler. Ein deutsches Pärchen (Natascha und Friedemann aus Leipzig) und einen einheimischen Radler (Celal). Natascha und Friedemann sind mit dem Tandem und einem Anhänger unterwegs. Sie sind ziemlich zeitgleich mit mir gestartet, haben aber verschiedene Strecken mit dem Zug zurückgelegt. Meist haben wir uns nur um wenige Tage verpasst. Sie fahren noch weiter bis Tiflis und müssen dann wieder zurück. Eine Geschichte für sich war aber Celal. Auf den ersten Blick glaubten wir alle, dass er auf Weltumradelung ist. Doch dann stellte sich heraus, dass er nur einen Tagesausflug von Ünye nach Fatsa und zurück in Angriff genommen hatte (2x 20km). Das meiste seiner Ausrüstung hatte er selbst gebastelt. Das Rad war mit allen nur denkbaren Utensilien ausgestattet. Nur ein beispielhafter Auszug aus seinem Equipment: 8 Wasserflaschen, diverse Kompasse, 2 Luftpumpen, Flaschenöffner, Reitpeitsche, Taschenlampe in Schlagstockform, Klamotten für gefühlt zwei Wochen, Campingequipment, Reitpeitsche zum verjagen von Hunden, verschiedenste Lampen am Rad, Warnwesten, mehrere Taschen, Aufnäher mit seiner Blutgruppe usw.
Ich konnte es auch nur schwer glauben, dass er für 40km so massiv bepackt war. Als Polizist hatte er heute Urlaub und nutzte den Tag zum Radeln. Für uns ein Geschenk… zuerst fuhren wir mit ihm zu seinem Freund in Fatsa und besuchten dort den Fahrradladen. Dort besorgte ich mir gleich mal einen Ersatzcomputer. Bei 20TL ist nicht viel verloren. Danach kauften wir kurz ein und gingen mit Celal gemeinsam ans Meer um dort zu Picknicken. Es wurde groß aufgekocht. Eierspeise, Tee, verschiedene Käse, Aufstriche etc. All das hatte er aus seinen Taschen gezaubert.
Ich konnte meine 2kg Brot beisteuern, die ich gestern fürs Camping gekauft hatte. Somit hatte das auch seinen Sinn gehabt. Die paar Stunden mit Celal waren der Beginn eines fabelhaften Tages. Wir lachten viel gemeinsam und konnten uns nur schwer vom reich gedeckten Tisch lösen. Doch langsam wurde es Zeit aufzubrechen. Bis Ordu waren es noch knapp 60km und es war bereits Nachmittag.
Die schlechte Laune war wie weggeblasen. Ein breites Lächeln lag wieder auf meinem Gesicht. Ab jetzt waren wir erstmalig als richtige Reisegruppe unterwegs. Friedemann und Natascha mit ihrem Tandemgespann vorraus, wir hinterher. Wir steuerten gemeinsam in Richtung Ordu. Die schnellste Verbindung nach Ordu, durch einen 4km langen Tunnel ließen wir rechts liegen und entschieden uns für die etwa 20km längere Strecke an der Schwarzmeerküste. Landschaftlich war das die beste Entscheidung überhaupt. Ein paar Höhenmeter waren immer wieder mal zu bewältigen, aber das Panorama und die Herzlichkeit der Menschen in den Dörfern war unbeschreiblich. Immer wieder war ich kurz davor, einfach stehen zu bleiben und das Zelt am Meer aufzuschlagen, doch für heute hatten wir uns mit Ayshe in Ordu verabredet. Bereits von Beginn an war klar, dass wir Ordu nicht wie geplant um 17:30 Uhr erreichen werden. Ich begann also einen regen SMS Kontakt mit Ayshe und informierte sie auch über unsere neuen Bekannten.
Sie organisierte kurz darauf sogar noch eine Schlafgelegenheit für Natascha und Friedemann. Die Hilfsbereitschaft und die Gastfreundschaft der Leute hier ist wirklich unbeschreiblich.
Kurz nach 18 Uhr waren wir dann in Ordu angekommen. Nach einem köstlichen Abendmahl bei Ayshe und Serdal besuchten wir noch kurz ihre Freunde, bei denen Natascha und Friedemann untergebracht waren. Es wurde ein geselliger Abend, doch die 50km bei sehr hohem Tempo waren uns allen in den Gesichtern abzulesen. Müde und erschöpft radelten wir bei leichtem Regen zurück zu Ayshe und Serdal.
So unbefriedigend der Tag begonnen hatte, so fantastisch endete er. Ich muss mich immer wieder wundern, wie manche Zufälle andere Zufälle möglich machen. Wären wir heute so wie immer am Vormittag gestartet, hätten wir niemals Natascha und Friedemann getroffen und auch der Rest des Tages wäre ganz anders verlaufen… Manche Dinge müssen offenbar einfach passieren.

Tag 35 – 07.März

Bordu – Giresun: 43km; 2:13h im Sattel; 14 Grad, bewölkt
Warmshowers (Emirhan + Ayüp)

Nach über 30 Tagen unterwegs war es offenbar notwendig, dass ein Tag mit schlechter Laune dazwischengeschoben wurde. Auf wundersame Weise löste sich aber alles wieder in Wohlgefallen auf. Mein Fahrradcomputer war mir heute auch wieder wohl gesinnt, die Sonne blitzte am Morgen durch den Wolkenhimmel und der Blick aufs Meer von Ayshes Wohnzimmer aus entschädigte für alles. Ayshe und Serdal ließen es sich nicht nehmen, uns vor der Abreise noch ein reichhaltiges Frühstück vorzusetzen. Ich bin bereits großer Fan der traditionell eingemachten Tomatenspeise. Dazu werden im Sommer Tomaten mit Peperoni (alles kleingehackt) eingekocht und dann bei Bedarf mit etwas Käse und Ei in der Pfanne erwärmt.
Für heute stand eine besonders kurze Tagesetappe vor uns. Daher wollten wir zuerst noch etwas Zeit in Bordu verbingen. Wir trafen uns noch kurz mit Friedemann und Natascha. Ihr Gastgeber (Cengiz) brachte sie bei unserer Unterkunft vorbei. Martin und ich hatten gestern beschlossen, den Hausberg von Bordu zu besuchen. Die Beiden hatten dazu aber keine Lust und entschieden sich zum Weiterfahren. Ich denke, dass wir ihnen auf der Strecke sicher noch einmal begegnen werden. Zumindest in Tiflis sollten wir wieder zusammentreffen.
Cengiz ist seit einiger Zeit arbeitslos (er arbeitete lange Zeit als Ingenieur in Dubai) und freut sich riesig über etwas Abwechslung und v.a. darüber, sein sehr gutes English zu verbessern. Nach einem gemeinsamen Tee am Strand gings auf den Berg hinauf. Theoretisch hätten wir natürlich auch mit dem Rad hochfahren können, aber die neu errichtete Seilbahn war doch zu verlockend. Cengiz verhandelte dann noch einen Rabatt, weil wir nicht mit der Bahn wieder ins Tal fahren werden. Also, jeder mit seinem Rad in eine Gondel und 8min. später konnten wir schon einen fantastischen Blick auf Bordu genießen. Gemütlich plauderten wir am Gipfel mit Cengiz und brausten schließlich mit den Rädern wieder in Richtung Stadt. Ich war froh, die Seilbahn genommen zu haben, die Steigung hatte es doch ziemlich in sich. Irgendwie passte heute wieder alles zusammen. Wir hatten keinen Stress frühzeitig die Stadt zu verlassen und so konnten wir mit Cengiz noch das “Hauptquartier” des örtlichen Fahrradclubs besuchen. In Ordu gibt es ziemlich viele Radbegeisterte. Bei den gemeinsamen Ausfahrten der Bikesafari Ordu sind immer zwischen 10 und 50 Leute dabei. Man muss fairerweise aber auch sagen, dass es sich dabei primär um die gehobene Mittelschicht handelt. Ärzte, Juristen, Ingenieure… Alleine die Ausrüstung kann Gut und Gerne mit Europäischem Standard mithalten. Viele der Räder werden aus Deutschland importiert.
Cengiz beschloss, uns noch ein paar Kilometer zu begleiten. Dazu wurde aber erst mal das Mountainbike mit dem Rennrad getauscht. Nachdem er schon längere Zeit überlegt, ebenfalls eine mehrwöchige Radtour zu unternehmen versuchte er die ersten 15km mit meinem Rad zu fahren. Ich hatte unterdessen das Gefühl schwerelos über der Straße zu gleiten. 9kg Rennrad unter dem HIntern, kein Gepäck… Aber irgendwie fehlte etwas. In den letzten Wochen habe ich mich schon so sehr an das Rad gewöhnt, dass mir das Rennrad fast ein bisschen zu wenig war. Cengiz hingegen keuchte vor uns her. Er war zu sehr damit beschäftigt, Balance zu halten, als dass er die Schaltung betätigen wollte. Doch nach einigen Kilometern hatte auch er den Dreh raus.
So, und als ob es nicht schon Zufälle genug gegeben hätte… kurz bevor wir zwecks einer kleinen Stärkung Halt machen wollten, tauchte vor uns wieder ein Reiseradler auf. Wir waren auf zwei junge Belgier gestoßen (Nominoe und Simon – www.theveloteurs.eklablog.com), die bereits im September in Belgien gestartet waren und sich langsam in Richtung Indien vorarbeiten. Somit war die Gruppe schlagartig wieder auf 5 Radler angewachsen. Cengiz war zu sehr in die Gespräche vertieft, als dass er wieder in Richtung Ordu umkehren wollte. Erst in Giresun, unserem Etappenziel beschloss er, die Heimfahrt anzutreten.
Es ist immer wieder ein eigenartiges Gefühl, sich von Leuten zu trennen, mit denen man so angenehme Stunden verbracht hatte. Aber bei Cengiz fand ich es besonders schade, dass er wieder zurück musste. Ich drücke ihm die Daumen, dass er seine geplante Türkeitour in den nächsten Wochen starten kann.
Den beiden Belgiern hatte ich angeboten, mit nach Giresun zu kommen. Unser Gastgeber, Emirhan, setzte nach unserer Ankunft gleich alle Hebel in Bewegung, dass die beiden ebenfalls einen Schlafplatz bei Freunden von ihm bekommen.
Unglaublich, diese Spontaneität und die Hilfsbereitschaft, die uns in der Türkei entgegengebracht wird.