Tag 142 – 22.Juni

Beginn der Serpentinen zum Song Köl See – Song Köl See: 37 km; 3:24h im Sattel; 11-18 Grad, wechselhaft
Camping

Sowohl heute Nacht, als auch am Morgen war deutlich zu spüren, dass wir uns über 2500m befanden. Zum Glück war noch etwas Glut in der Feuerstelle, sodass ich gleich noch ein kleines Feuer anfachen konnte. Gestern trieb uns noch die Sonne aus dem Zelt und heute wollte man nicht wirklich aus dem warmen Schlafsack raus. So schnell wie sich die Landschaft hier ändert, so schnell ist man auch in unterschiedlichen Temperaturzonen.
Heute gehts zum Song Köl See. Nur noch knapp 800 Höhenmeter sind zu bewältigen. Im Vorfeld hatte sich schon eine gewisse Aura um diesen Pass gebildet. Jeder, den wir bisher getroffen hatten, war der Meinung, dass der Pass besonders hart sei. Eine klare Ansage, was wirklich so hart daran sei hatten wir aber nie erhalten. Man stellt sich dann alles mögliche vor. Extrem schlechte Straße, oder besonders steile Passagen… Schlussendlich stellte sich heraus, dass die Strecke erstaunlich gut zu befahren war. Moderate Steigung, verhältnismäßig gute Straße… da lagen schon einige weit schlimmere Anstiege hinter uns. Fast wie jeden Tag holte uns auch heute noch ein kurzer Regenschauer ein, aber als wir pünktlich um 12 Uhr auf der Passhöhe standen, waren die Regenwolken schon wieder verschwunden. Der See lag nur noch wenige Kilometer von uns entfernt und der Blick zurück ins Tal aus dem wir gekommen waren, war gewaltig. Hatten uns gestern und heute noch zahlreiche Bäume begleitet, sieht man auf der Seeseite keinen einzigen Baum mehr. Der See liegt auf 3000m und ist von saftig grünen Wiesen umgeben.
Auf der Passhöhe überholt uns eine Nomadenfamilie im LKW die gerade mit ihrem gesamten Hausrat in Richtung See unterwegs ist. Der Laster ist abenteuerlich beladen und quält sich beinahe mehr die Serpentinen hoch als wir…
Endlich am See angekommen gönnen wir uns erst mal eine ausgedehnte Mittagspause. Verstreut sieht man überall Jurten und in deren Nähe große Tierherden. Meistens sind es Pferde, aber hie und da auch Schafe oder Kühe. Zum Baden eignet sich der See nicht wirklich. Erstens ist es nicht sonderlich warm, zweitens wird das Seeufer von den Tieren zum Trinken verwendet und ist dementsprechend dreckig und drittens ist das Wasser – wie auf 3000m zu erwarten – empfindlich kalt. Zu meiner großen Überraschung gib es hier am See sogar Möwen. In den 1950er Jahren hatten die Sowjets Fische im See angesiedelt. Diese dienen nun den Nomaden als Nahrungsgrundlage. Ob die Möwen mit den Fischen gekommen sind ist mir nicht ganz klar, auf alle Fälle ein eigenartiges Bild, wenn auf 3000m Höhe Möwen ihre Kreise ziehen.
Die vergangenen Tage haben bei uns allen Spuren hinterlassen. Nachdem jeder am See ein Nickerchen gemacht hat, müssen wir entscheiden, in welche Richtung wir weiterradeln. Wir entscheiden uns für die Ostroute. Etwas träge steigen wir wieder aufs Rad und radeln weiter. Die Straße wird wieder schlechter und so ist trotz ebener Fläche nicht an ein rasches Vorankommen zu denken. Franzis vorderer Mantel quittiert schließlich auch noch seinen Dienst. Die vielen Steine auf der Schotterstraße sind für die billigen chinesischen Mäntel dann doch zu viel. Als wir einen kleinen Flusslauf passieren, werden die Wasservorräte wieder aufgefüllt. Aufgrund der generellen Müdigkeit beschließen wir, in der Nähe des Flusses vorzeitig unsere Zelte aufzustellen. Man weiß nicht genau, woher diese lähmende Müdigkeit kommt. Ist es die Höhenluft, oder einfach die Anstrengung der letzten Tage? Vielleicht trägt auch die etwas eintönige Ernährung dazu bei. Jeden Tag Nudeln, oder Suppe und Schokoriegel… In Sichtdistanz zu unserem Zeltplatz befindet sich eine Gruppe Jurten, die offenbar für Touristen zum Übernachten ausgelegt sind. Wir versuchen unser Glück und fragen nach, ob wir was zu Essen bekommen. Wir werden freundlich willkommen geheißen und mit gebratenem Fisch und Suppe beglückt. Auch wenn Fisch nicht für jeden das beliebteste Gericht ist, sind wir alle mehr als froh, einmal wieder etwas anderes zwischen die Zähne bekommen zu haben. Es wird vielleicht sogar noch zwei Tage brauchen, bis wir das nächste Dorf erreichen. Mit Glück schaffen wir es morgen. Die Essensvorräte gehen schon langsam wieder zur Neige, von daher war es eine sehr willkommene Gelegenheit, einmal nicht aus dem eigenen Vorrat zu speisen.
Die untergehende Sonne taucht die uns umgebenden Berggipfel in ein traumhaftes Rot. Unter Tags hingen noch dicke Regenwolken über dem See, jetzt klart es auf, die Wolken verschwinden und es sieht ganz danach aus, dass wir morgen vielleicht sogar einen sonnigen Tag erwarten können. Ein herrliches Gefühl, endlich am See angekommen zu sein. Der Weg hierher war beschwerlich, aber jeder Meter war die Mühe wert. Franzi war ja kurz davor aufzugeben und den See links liegen zu lassen. Jetzt ist sie umso glücklicher doch noch durchgehalten zu haben und das Highlight der Strecke selbst erleben zu können. Eine sehr spezielle Stimmung liegt in der Luft. Der See strahlt eine ganz besondere Ruhe aus. Nach dem vielen Auf und Ab der letzten Tage ein traumhafter Kontrast.
Nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, sinkt die Temperatur spürbar ab. Eine neuerlich kühle Nacht zeichnet sich ab.

Tag 143 – 23.Juni

Song Köl See – Sari Bulak: 79km; 4:55h im Sattel; 8-25 Grad, wechselhaft
Camping

Die Temperatur fiel heute Nacht deutlich unter den Gefrierpunkt. Morgens um 5:30 Uhr zeigte das Thermometer im Zelt -1Grad an. Die Wasserflaschen waren alle angefroren und die Zelte schimmerten weiß als die ersten Sonnenstrahlen wieder Wärme brachten. Es dauerte nicht allzu lange, bis man wieder kurzärmelig draussen sitzen konnten. Das Wetter hier in der Gegend ist wirklich mehr als wechselhaft. Wir hatten ja bereits mehrfach am eigenen Körper erlebt, wie schnell es zu regnen beginnen kann. Jetzt am frühen Morgen liegt der See spiegelglatt vor uns, keine Wolke ist am Himmel zu sehen, aber mit der Sonne kommen auch schon die ersten Wolken. Wo es heute wieder regnen wird ist wohl eher eine Glücksfrage. Noch vor drei Wochen lag hier am See Schnee. Die Familie bei der wir gestern gegessen hatten, baute am 1.Juni am Song Köl See ihre Jurten im knietiefen Schnee auf. Vom Timing her sind wir also gerade zur besten Zeit gekommen. Nur ein paar Wochen früher und der Weg zum See wäre noch versperrt gewesen.
Die Stimmung in der Gruppe war gut, nachdem heute auch nur ein einziger Anstieg bevorstand und uns danach eine lange Abfahrt für die Kletterei belohnen würde. So richtig in Fahrt kamen wir aber nicht, weil wir immer wieder wegen Reifendefekten anhalten mussten. Franzi hat es heute ziemlich erwischt. Insgesamt drei Reifenpannen. Es wird Zeit, dass sie in Bishkek bessere Mäntel aufzieht.
Bevor wir die letzten Höhenmeter in Angriff nehmen gönnen wir uns noch einen Schluck Tee mit Stutenmilch in einer der Jurten. Mit ein paar Löffeln Zucker ist das eigentlich ein recht leckeres Getränk. Zum Tee gabs Brot, welches wir schon seit Tagen vermissen. Nachdem der letzte Krümel verdrückt war, brechen wir wieder auf und lassen den See hinter uns. Wir passieren eine Herde Yaks, die einen ziemlich beeindruckenden Eindruck hinterlassen. Im Gegensatz zu den Kuhherden flößen einem die Yaks aufgrund ihrer Körpermasse durchaus Respekt ein. Vielleicht liegt es aber auch an den Geräuschen, die sie von sich geben. Wenn man die Körpermasse eines Yaks in Betracht zieht, kann vermutlich eine Familie ein ganzes Jahr davon essen.
Die letzten Meter bis zur Passhöhe auf 2450m verlangen noch etwas Durchhaltevermögen. Es geht steil hinauf, aber der Gedanke an die Abfahrt sorgt für die notwendige Energie. Endlich – der Blick hinab ins nächste Tal ist frei. Unter uns windet sich die Schotterpiste hinab und man kann auch schon den Flusslauf erkennen, dem wir dann noch für 25km folgen werden. Es ist kalt in der Höhe und von Westen zieht schon wieder einmal ein Gewitter auf. Die Abfahrt gestaltet sich als recht anspruchsvoll. Immer wieder muss man das voll beladene Rad um große Steinbrocken in der “Straße” manövrieren. Die Bremsen laufen wieder einmal heiß, aber es ist eine Freude, das Rad seit Langem wieder einmal laufen lassen zu können. Pünktlich als der Regen einsetzt hat Franzi ihre dritte Reifenpanne. Die Berggipfel werden binnen Minuten in einen weißen Mantel gehüllt. Über 3000m schneit es offenbar. Zum Glück sind wir noch rechtzeitig aufgebrochen.
Die Energieversorgung lässt bei jedem von uns schon zu wünschen übrig. Ein Heißhunger nach Schokoriegeln und Softdrinks treibt uns voran. Das erste Dorf seit Tagen liegt noch knapp 20km vor uns aber zum Glück geht es bergab. Der Gedanke an einen kleinen Shop lässt einem sogar die Wellblechpassagen ohne Murren passieren. In Keng Suu angekommen stürmen wir dann auch gleich den Erstbesten Laden und kaufen sämtliche Snickers auf. Ausgestattet mit Schokoladenriegeln, Keksen und Softdrinks lassen wir und auch gleich direkt im Laden nieder und füllen erst einmal die Reserven auf.
Enzo träumt schon seit Stunden von einem Guesthouse mit warmer Dusche, Jona schwärmt von frischen Eiern, Franzi wünscht sich Obst und frisches Gemüse, ich sehne mich nach Brot… Die letzten Tage waren durchaus ein wenig entbehrungsreich, jetzt ist die Hauptstraße nicht mehr weit und wir hoffen alle darauf, dass zumindest ein paar unserer Wünsche erfüllt werden können. Zuvor gilt es aber noch einen letzten Hügel zu überqueren. Wieder einmal 7 – 11% Steigung, ein wenig demotivierend nach der langen Abfahrt. Der Regen hat die Straße ziemlich aufgeweicht, sodass die Reifen fast am Untergrund kleben bleiben. Aber schlussendlich ist auch das geschafft und es geht wieder bergab. Nur 500m bevor wir den lange ersehnten Asphalt erreichen, reißt bei Jona schon wieder eine Speiche. Diesmal hat es meine Notspeiche erwischt. Ich bin froh, dass sie zumindest bis hier durchgehalten hat. Trotzdem ärgerlich, dass es auf den letzten Metern noch einen Defekt geben muss. Die Freude über Asphalt überwiegt aber. Fast 400km Schotterpiste, loses Gestein, Wellblech und Lehmpiste liegen hinter uns. Jetzt das Rad einfach mal über den Asphalt rollen zu lassen ist eine Wohltat.
In Sari Bulak, dem ersten Dorf auf der Hauptstraße machen wir noch einen Einkehrschwung im örtlichen Restaurant. Es gibt Teigtaschen und leckere Suppe. Heute Abend muss nicht mehr gekocht werden… Die Benzinvorräte sind ohnehin schon knapp und die Lust auf Pasta am Abend hält sich in Grenzen.
Es war definitiv kein einfacher Weg von Osh zum Song Köl See, aber die Fahrt dorthin hat sich auf alle Fälle ausgezahlt. Ich habe noch nie soviel schöne Landschaft auf so engem Raum gesehen. Mit Fotos versucht man so gut als möglich diese Eindrücke festzuhalten, aber die Stimmung die herrscht, wenn man durch diese traumhafte Gegend radelt kann man leider nicht mit einem Foto mitnehmen. Ich glaube nicht, dass ich mit zu weit aus dem Fenster lehne, wenn ich behaupte, dass ich in den letzten Tagen durch die schönste Gegend meiner gesamten Reise geradelt bin. Eine derartige Vielfalt hätte ich mir im Traum nicht vorstellen können. Ich bin gespannt, was die kommenden Tage noch zu bieten haben. Bis nach Bishkek sind es vermutlich noch drei Tage, dann gibt es eine längere Pause. Das chinesische Visum muss beantragt werden, das Rad muss zwingend überholt werden und der Körper sehnt sich auch nach etwas Ruhe.

Tag 144 – 24.Juni

Sari Bulak – kurz hinter Balykchy: 110km; 4:45h im Sattel; 18 – 27 Grad, wechselhaft
Camping

Die Zelte hatten wir dieses Mal ja direkt neben dem Fluss aufgeschlagen, demnach lag es nahe, die seit langem notwendige Grundreinigung durchzuführen. Rad und Packtaschen wurden von Staub und Lehm der zurückliegenden Tage befreit und dann konnte es bei strahlendem Sonnenschein auch schon losgehen. Herrlich, zur Abwechslung einmal wieder auf gutem Asphalt unterwegs zu sein. Mit konstantem Gefälle ging es in Richtung Kochkor. Leider wurde die 35km lange Abfahrt durch eine gerissene Speiche von Jona unterbrochen. Die zurückliegenden Tage hatten den Erfindungsreichtum bereits geschärft und so wurde rasch eine neue Hilfskonstruktion gebastelt. Lange hält Jonas Rad jetzt aber auch nicht mehr durch. Die Bremsflanken seines Vorderrades biegen sich jetzt schon nach außen, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Felge kollabiert. Ich hoffe nur, dass er es noch bis Bishkek schafft.
In Kochkor angekommen werden erst einmal die Benzinflaschen aufgefüllt und danach begeben wir uns auf die Suche nach einem Supermarkt. Man fühlt sich wie ein Schulkind im Süßigkeitenladen… Es gibt fast alles, was wir uns erhofft hatten. Frisches Obst, eine große Auswahl an Gemüse, Brot, Eier, Softdrinks, Eis, etc. Willkommen zurück in der Zivilisation. Dank Rückenwind und leicht abfallender Straße kommen wir heute sehr flott voran. Der Rückenwind nimmt langsam aber sturmartige Züge an und es kommt das, was wir die letzten Tage regelmäßig erleben durften – ein kräftiger Regenschauer. Pünktlich zum einsetzenden Regen hat Jona einen Platten, aber trotz der widrigen Umstände bekommen wir das Rad auch wieder flott. Eigentlich wollten wir direkt am See unsere Feldküche aufbauen, der starke Wind verbannt uns aber in eine grubenartige Vertiefung, wo wir zumindest windgeschützt kochen können. Ein Festmahl – Gemüse mit Eiern und Brot. All das, wonach man sich die letzten Tage gesehnt hatte.
Es ist kaum zu glauben, aber es geht immer noch begab. Bis nach Bishkek sind es noch gut 1000 Höhenmeter bergab… Nach einigen Kilometern durch Steppenartige Landschaft taucht in der Ferne der Ysyk Köl See auf, der größte See Kirgistans. Es wirkt, als ob man dem Meer entgegenfährt. Das andere Ufer des Sees ist nicht zu erkennen, zu meiner Verwunderung gibt es aber keine Landwirtschaft am Seeufer. Einzig eine große Stadt, Balykchy, ist auszumachen. Man sieht Hochhäuser und ist erstaunt ob der großen Ausdehnung der Stadt. In den vergangenen Tagen waren wir nur durch kleine Dörfer geradelt, jetzt wieder eine Stadt zu sehen ist direkt etwas befremdlich.
Wenn man zurückblickt sieht man noch die schneebedeckten Berggipfel von wo wir gekommen sind. Die Spitzen leuchten in strahlendem Weiß, über 3000m hat es auch heute wieder geschneit. Bevor wir Balykchy erreichen passieren wir noch einen großen Friedhof an der Straße. Die Friedhöfe sind hier wirklich imposant. Kaum eine Grabstätte gleicht der anderen, manche Grabstätten erinnern schon mehr an ein Haus, andere sind sehr simpel gehalten, wieder andere bestehen nur aus einem einfachen Grabstein. Auf fast allen Gräbern sieht man aber Portraits der Verstorbenen.
Kurz vor der Stadteinfahrt wird Jona wieder einmal vom Speichenpech heimgesucht. Diesmal erwischt es aber eine neue Speiche. Man hat das Gefühl, das Rad fällt so langsam auseinander. In Richtung Bishkek braut sich wieder einmal ein ordentliches Gewitter zusammen. Wir radeln direkt auf eine schwarze Wand zu, die ersten Blitze zucken bereits in der Ferne. Es wird Zeit, das Zelt aufzuschlagen. Rechtzeitig vor dem ersten Regenguss stehen die Zelte und wir verkriechen uns im Trockenen. Als krönenden Abschluss gibt es frisches Kompott aus den Aprikosen und Pflaumen, die ich heute Mittag gekauft hatte. Nachtisch gibt es nicht oft bei der Campingküche, aber wenn es welchen gibt, dann freut man sich umso mehr.
Zur Sicherheit hatte ich heute die Abspannschnüre verwendet und war dann auch heilfroh darum. Der Wind zerrt am Zelt, das man das Gefühl hat, mitsamt dem Zelt weggerissen zu werden, aber die Haken halten zum Glück stand.

Tag 145 – 25.Juni

Kurz hinter Balykchy – 20km vor Tokmok: 88km; 3:53h im Sattel; 21 – 31 Grad, sonnig
Camping

Wind und Regen hatten für eine etwas unruhige Nacht gesorgt dafür schien der ganze Spuk am Morgen vorüber zu sein. Die Bergspitzen der uns umgebenden Berge waren in leuchtendes weiß gehüllt. Offenbar hatte es bis auf weit unter 3000m geschneit. Wir sind also noch rechtzeitig vom Song Köl See aufgebrochen, ansonsten wären wir jetzt wohl durch den Schnee geradelt.
Der angepeilte frühe Start wurde durch eine erneute Panne verschoben. Bei Jonas Hinterrad war die gestern reparierte Speiche wieder abgerissen. Mit zwei fehlenden Speichen in Richtung Bishkek zu radeln war aussichtslos, darum beschlossen wir, die Vorderräder von Jona und Franzi jetzt als Ersatzteilspender zu verwenden. Die Kassette wurde – wie in Kazaman bereits praktiziert – demontiert und zwei neue Speichen eingesetzt. Die Vorderräder sollten es doch mit einer Speiche weniger bis Bishkek schaffen.
Als wir den zeckenverseuchten Zeltplatz verließen, brannte die Sonne schon wieder mit voller Kraft auf uns herab. Die kühlen Tage sind nun definitiv wieder vorüber. Die Straße war Anfangs noch in recht miserablem Zustand, da große Abschnitte noch nicht asphaltiert waren, doch nach und nach wurde es besser. Der starke Höhenschlag bei Jonas Hinterrad hatte dazu geführt, dass der Mantel konstant am Rahmen scheuerte und schlussendlich Mantel und Schlauch durchgescheuert waren. Zum Glück ging ihm direkt vor einer Raststation die Luft aus. Wir konnten uns somit in der Zwischenzeit mit Schokoriegeln, Eis und Softdrinks versorgen. Jeden Meter, den wir uns auf Bishkek zubewegen ist ein gewonnener Meter. Die Räder von Jona und Franzi haben ihre Lebensdauer nun definitiv überschritten. Es heißt Daumen drücken für die letzten 150 Kilometer.
Seit wir den Ysyk Köl See hinter uns gelassen haben, begegnen uns immer häufiger Touristenbusse. Auch am Straßenrand ändert sich die Infrastruktur. In regelmäßigen Abständen finden sich nun große Raststätten mit Geschäften und Speiselokalen. Neben der Straße haben einige Nomaden ihre Jurten aufgeschlagen und verkaufen dort Milch- und Käseprodukte. Es wird wieder konsumiert!
Dank der leicht abfallenden Straße kommen wir sehr gut voran und machen die Zeit, die wir an der Raststätte verbracht haben auch schnell wieder gut. Neben einer Obstplantage machen wir Mittag und werden beim Losfahren wieder durch einen Defekt aufgehalten. Diesmal ist der Vorderreifen von Franzi platt. Der Kleber, den sie auf dem Bazar erstanden hatten ist wirklich von sehr geringer Qualität, sodass Klebstellen nur mit viel Glück dicht bleiben. Nachdem mich Valentin in Osh mit neuem Flickzeug versorgt hat, kann ich guten Gewissens meine noch halb volle Tube weitergeben.
Man spürt, dass jetzt jeder von uns nur noch in Bishkek ankommen will. Als geschlossener Konvoi pflügen wir mit über 30 Sachen durch den leichten Gegenwind. Wir pedalieren zwar auf einer vierspurigen Straße dahin, genießen aber trotzdem das flotte Vorankommen. Die 100km Marke ist schon in greifbarer Nähe, da taucht der erste Radreisende auf der Gegenseite auf. Rado aus Rumänien soll heute nicht der letzte gewesen sein. Wir treffen noch auf Koen und Lama aus Beglien, die witzigerweise ebenfalls nach Wladiwostok radeln (www.hansbeke-vladivostok-hansbeke.com). Die beiden wohnen in Belgien in einer Bahnstation und wollen von Wladiwostok aus mit dem Zug direkt nach Hause fahren. Kurze Zeit später noch auf Simon und Emelie aus Canada, die gerade eben ihren Trip in Richtung Südostasien gestartet haben. Die Zwei führt es jetzt in Richtung Song Köl See, sicherlich nicht der einfachste Start in das Abenteuer Fahrradreise, aber definitiv ein schöner. Wenige Kilometer später treffen wir noch Julien aus Paris, der uns mit Tips für Bishkek versorgt. Es scheint eine sehr angenehme Unterkunft zu geben, die wir nun auch ansteuern werden. Von den Erzählungen klingt es ähnlich wie die Situation in Dushanbe. Ich bin gespannt.
Die 100km Marke haben wir heute nicht mehr geknackt. Dafür fanden wir noch einen sehr feinen Zeltplatz mit eigenem Wasserloch zum Baden. Bei Fruchtsalat und kühlem Bier kann man den Tag gemütlich ausklingen lassen. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass wir uns direkt an der Grenze zu Kasachstan befinden. Auf der anderen Flussseite scheint schon Kasachstan zu sein. Mir kommt die Geschichte von Wolfgang wieder in den Kopf, der am ersten Abend gleich wegen Spionageverdacht verhaftet wurde, nachdem er in direkter Nähe zur Grenze gezeltet hatte. Ein wenig Unsicherheit liegt in der Luft, aber wir sind guter Dinge.
Der letzte gemeinsame Zeltabend neigt sich dem Ende zu. Ereignisreiche Tage liegen hinter uns, unzählige Pannen mussten behoben werden und dem Körper wurde oft genug seine Leistungsgrenze aufgezeigt. Trotz alledem waren es traumhafte Tage in einem Teil von Kirgistan, den man nur mit “wunderschön” beschreiben kann. Seit Osh haben wir auf 750km knapp 9000 Höhenmeter gemacht, die letzten Kilometer bis nach Bishkek geht es immer noch leicht bergab. Ich hoffe nur, dass wir alle gemeinsam dort ankommen. Jonas Seitenwand der vorderen Felge kippt jetzt schon bedrohlich weit ab. Es heißt Daumen drücken!!!

Tag 146 – 26.Juni

15km vor Tokmok – Bishkek: 93km; 3:41h im Sattel; 25 – 36 Grad, Sonne
Warmshowers / Camping

Unser Zeltplatz blieb von einem Besuch der Grenzpolizei verschont. Wir genossen noch einmal den herrlichen Blick auf die nun weit hinter uns liegenden Bergketten und waren guter Dinge, bis zum frühen Nachmittag in Bishkek zu sein. Immer dann, wenn man zu zuversichtlich ist, kommt doch etwas dazwischen. Die Pannenserie bei Jona riss nicht ab. Zuerst brach wieder einmal eine Speiche am Hinterrad. Aufgrund der guten Straßenbedingungen beschloss er ohne Ersatz weiterzufahren. Nur wenige Kilometer später gab eine weitere Speiche nach. Jetzt hieß es doch Kassette ausbauen und neue Speichen einziehen. Franzis Rad wurde dazu ausgeschlachtet. Sie fährt jetzt mit zwei Speichen weniger im Vorderrad und einer Speiche weniger im Hinterrad. In Rekordzeit wurde die Kassette demontiert, die Speichen ersetzt und das Rad zentriert. Es konnte weitergehen. Knapp einen Kilometer später dann wieder eine Zwangspause, diesmal ein platter Reifen. An sich kein großes Problem, aber es gab keine Ersatzschläuche mehr und das Loch lag so ungünstig neben dem Ventil, dass es sich nicht so einfach flicken ließ. Nachdem das Loch zu war ließ sich der Reifen aber nicht mehr aufpumpen, jetzt gab es einen Defekt im Ventil. Es war zum verrückt werden. Schlussendlich machte sich Enzo auf und suchte im wenige Kilometer zurückliegenden Ort Tokmok nach neuen Schläuchen. Ohne den Ersatz wäre die Reise für Jonas Rad hier wohl zu Ende gewesen… Aber so einfach geben wir nicht auf.
Bis zum Schluss bleibt es spannend. Solange das Rad rollt will Jona auch gar nicht mehr stoppen. Es ist unangenehm heiß geworden, die Sonne brennt uns auf die Köpfe und neben der Straße lockt ein Fluss zur Abkühlung, aber wir wollen nur noch heil in Bishkek ankommen. Die Strecke verläuft direkt an der Grenze zu Kasachstan. Jenseits des Flusses sieht man die Stacheldrahtzäune und immer wieder einmal einen Wachturm.
Bishkek kommt immer näher, die Sonne setzt aber jedem ein wenig zu. Vor allem Franzi hat mit der Hitze ziemlich zu kämpfen. Zu allem Überfluss gehts dann die letzten 15km noch leicht bergauf… Vom Gefühl schon lange angekommen, tatsächlich aber noch ein gutes Stück von unserer Unterkunft entfernt. Immer wieder reißt die Gruppe auseinander, doch es ist nicht mehr weit. Die Schlaglöcher in den Straßen häufen sich wieder, was Jona besondere Bauchschmerzen bereitet, aber zu guter Letzt schaffen wir es ohne weitere Panne bis zum Haus von Nathan. Hier können wir im Garten unsere Zelte aufstellen. Ähnlich wie Veronique in Dushanbe stellt er Haus und Garten für Radler zur Verfügung. Einziger Unterschied – er verlangt dafür einen Unkostenbeitrag von 5 Dollar. Man fühlt sich auf Anhieb wohl. Es gibt eine Waschmaschine, Dusche, Internet und eine Küche. Was will man mehr…
Nathan selbst ist eben heute zu einem dreitägigen Fahrradtrip aufgebrochen, wir wurden aber von Rado, den wir gestern auf der Straße getroffen hatten bereits angekündigt.
Wie knapp wir Bishkek erreicht hatten zeigte sich, als ich mich gemeinsam mit Jona auf den Weg machte, um nach neuen Laufrädern für ihre Räder zu suchen. Nur 500m nachdem wir das Haus verlassen hatte, brach die Seitenwand der Felge komplett durch und die Luft war draussen. Es war wirklich eine Punktlandung. Die vielen Stoßgebete hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Wir waren alle gemeinsam in Bishkek angekommen. Oft genug sah es sehr düster aus, aber mit etwas Erfindungsreichtum und gutem Zureden hat es doch noch geklappt.
Für mich bedeutet Bishkek jetzt erst einmal eine längere Pause. Ich hoffe, das Chinesische Visum binnen einer Woche in Empfang nehmen zu können, erst dann kann ich meine Reise wieder fortsetzen. Nathans Haus eignet sich fürs Erste einmal perfekt dazu um ein wenig ausspannen zu können.
Dass die Strecke von Osh bis Bishkek so anstrengend sein würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Dass sie aber auch so unglaublich schön sein würde, damit hatte ich ebenfalls nicht gerechnet. Ein wenig trauere ich noch der defekten Kamera hinterher, aber die meisten Eindrücke sind ohnehin im Kopf abgespeichert.
Fast zwei Wochen waren wir jetzt zu viert unterwegs. Eine sehr schöne Zeit geht zu Ende, aber jetzt werden wir wohl wieder getrennte Wege gehen. Es bleibt abzuwarten, welch neue Bekanntschaften sich auf der vor mir liegenden Strecke noch ergeben.