Tag 251 – 254 | 08. -11.Oktober

Transsib Tag 1 – 08.Oktober
Владивосток: 9259km bis Moskau

Nun geht es also los… über 9000km Bahnfahrt liegen vor uns und keiner weiß so recht, was uns erwartet. Wie denn auch – wer fährt schon mal 9000km mit dem Zug. Doch bevor es losgeht treffen wir uns noch einmal mit Egor, meinem Kontaktmann in Wladiwostok, den ich über Warmshowers kennengelernt hatte. Egor ist im Mai von seiner Asienrundfahrt mit dem Rad zurückgekehrt und versucht nun einen Teil der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft, die ihm und seiner Frau widerfahren sind, an andere Reisende zurückzugeben. Bereits im Vorfeld hatte er mich mit allerlei Informationen zur Transsib versorgt. Nun führt er uns durch die Stadt und nimmt uns mit auf Rusky Island, wo sich seine Fahrradwerkstätte befindet. Es geht über die vor kurzem eröffnete 3km lange Schrägseilbrücke mit fantastischem Blick auf den unter uns liegenden Hafen. Kriegsschiffe, U-Boote, Fähren und Frachter liegen hier vor Anker. Gut kann ich die Hafeneinfahrt erkennen, die ich erst vor wenigen Tagen mit der Eastern Dream genommen habe.
Vor ein paar Jahren wurden fast alle Fakultäten der Universität von Wladiwostok auf Ruski Island verlegt. Architektonisch ist der gewaltige Neubau mit Wohnanlagen, Institutsgebäuden, Vortragssälen und Sportanlagen leider ein ziemlicher Fehlgriff. Interessanterweise gehört Sport zu den Pflichtfächern jedes Studienganges in Wladiwostok.
Wir schlendern am Meer entlang, umgeben von dichtem Wald der in den allerschönsten Farben leuchtet. Der Indian Summer erlebt hier gerade seinen Höhepunkt. Mit etwas Glück gibts in unserer ersten Station, in Irkutsk auch noch bunt leuchtendes Laub zu bewundern. Zurück in der Stadt gibt uns Egor noch hilfreiche Tips für den Großeinkauf an Lebensmittel und Getränken für die kommenden drei Tage. Brot, Käse, Wurst, Kekse, Süßes, Wein, Säfte, Obst und Gemüse… Genug, oder zu wenig? Ich bin froh, erst einmal nur drei Tage unterwegs zu sein und nicht für die gesamte Strecke bis nach Moskau Vorräte mitschleppen zu müssen.
Am Bahnhof zerlege ich dann noch mein Fahrrad und packe es in die zuvor erstandene Bauplane und schleppe das geschnürte Paket zum Wagon Nr.8 – eigentlich erste Klasse, aber offenbar wegen mangelnder Auslastung teilweise als Gepäckwagon verwendet. Unser Wagon – die Nr.20 befindet sich fast am Ende des Zuges. Die zwei Südkoreanischen Radreisenden die ich auf der Fähre getroffen hatte sausen panisch an mir vorbei weil sie offenbar meinen Hinweis nicht ernst genommen hatten, dass das Rad vor Antritt der Reise verpackt werden sollte, doch schlussendlich finden sie einen gutmütigen Schaffner, der ihr Rad mit in den Wagon nimmt.
Um 12:10 Uhr Moskauer Zeit, also 19:10 Uhr Lokalzeit ist Abfahrt. Das Eisenbahnwesen in Moskau orientiert sich einzig nach der Moskauer Zeit. Für mich anfangs etwas befremdlich, doch wenn man bedenkt, dass der Zug bis Moskau durch sieben Zeitzonen fährt ist es verständlich, dass man eine einheitliche Zeitgebung benötigt.
Endlich geht es los. Im Viererabteil sind wir vorerst noch alleine. Das Abteil ist geräumiger als gedacht und wirkt schon auf Anhieb recht gemütlich. In der Regel gibt es drei Klassen in den Zügen der Transsibirischen Eisenbahn. Erste Klasse ist ein Zweierabteil, zweite Klasse ein Viererabteil und dritte Klasse ein offener Großraumwagen, in dem die Schlafplätze nur durch eine Mittelwand voneinander getrennt sind und die Liegen deutlich kleiner sind. Es gibt eine Reihe Liegen parallel zum Gang und daneben im rechten Winkel weitere Liegen, Stets zwei übereinander. Für Reisende mit viel Gepäck ist die dritte Klasse also nicht unbedingt empfehlenswert. Jeder Wagon verfügt über zwei Toiletten mit Waschbecken und zusätzlich einen Heißwasserbereiter. Jedem Wagon ist auch ein Schaffner zugeteilt, der in seinem Abteil Snacks verkauft und die Kohlen fürs Heißwasser nachlegt. Der Wagon ist nicht unbedingt der Neueste, aber erstaunlich gut gepflegt. Einer angenehmen Zugfahrt steht nichts im Wege.
Im Schein der untergehenden Sonne verabschieden wir uns von Wladiwostok und rollen erst einmal in Richtung Norden. Die Zugstrecke verläuft parallel zur nur wenige Kilometer entfernten Chinesischen Grenze. Eine herrliche Ruhe liegt über der Landschaft, die Bäume leuchten im Abendrot und wir genießen die Snacks aus der Kühltheke des Supermarktes. Viel Fisch, Gemüse, Öl und Käse – und alles zum ersten Mal nicht scharf! Den asiatischen Einflussbereich habe ich nun auch kulinarisch verlassen, ab jetzt kann sich der Gaumen wieder an neue, aber altbekannte Gewürze gewöhnen.
Ich rolle die dünne Matratze auf meiner Liege aus und lasse mich sanft in den Schlaf ruckeln.

Transsib Tag 2 – 09.Oktober
Хабаровск: 8534km bis Moskau

Nach einer traumhaft angenehmen Nacht empfing mich am Morgen dasselbe Bild wie am Abend – Wald wohin man blickt. Die Bäume tragen nun aber kaum noch Blätter, man spürt schon, dass man weiter in Richtung Norden unterwegs ist. Erst einmal kräftig frühstücken und danach aus dem Fenster kucken. So, oder so ähnlich wird es wohl die kommenden Tage auch weitergehen. Die Bäume ziehen am Fenster vorbei und verlieren immer mehr an Farbe. Es geht immer weiter in Richtung Norden. Zeichen von Zivilisation sieht man nur äußerst selten. Ab und an kommt die Straße den Eisenbahngleisen nahe und hin und wieder sieht man ein kleines Dorf. Bauarbeiter halten die Eisenbahntrasse in Schuss. Die Mützen und dicken Jacken lassen erahnen, dass es draussen relativ kühl sein muss. Ansonsten tut sich nicht viel abseits der Gleise. Im gut geheizten Abteil lässt es sich hervorragend plaudern und die Zeit vergeht wie im Flug, doch die meiste Zeit hänge ich am Fenster und beobachte die an mir vorüberziehende Landschaft. Bis nach Irkutsk sind es von Wladiwostok aus in etwa 55 Stationen. An den meisten Stationen bleibt der Zug zwei bis drei Minuten stehen, doch immer wieder einmal bietet sich auch die Möglichkeit, sich auf dem Bahnsteig ein wenig die Beine zu vertreten. Der Fahrplan an der Wagontür erleichtert die Orientierung, wo man sich gerade befindet und ob ein längerer Stop bevorsteht. Auf den Bahnsteigen sieht man vereinzelt Leute, die Lebensmittel verkaufen. Entgegen meiner Vorstellung läuft dies sehr zurückhaltend, fast schon im Geheimen ab. Sehr leise nur werden Eier, Gebäck, Räucherforellen, Fischeier oder ähnliches angeboten. Unsere Vorratstasche ist noch prall gefüllt, demnach gibt es keinen Bedarf, auf dem Bahnsteig einzukaufen, doch es kann ja nicht schaden, sich schon einmal ein Bild vom üblichen Prozedere zu machen. Beeindruckend wie diszipliniert die Fahrgäste sich an den Haltezeiten des Zuges orientieren. Schon ein paar Minuten bevor der Zug wieder Fahrt aufnimmt sind alle Fahrgäste wieder in ihren Wagons. Seit Abfahrt in Wladiwostok hatten wir auch noch keine einzige Minute Verspätung.
Ehe man sich versieht ist es schon Mittag und die Nudelsuppen werden ausgepackt. Ein wenig übers Reisen philosophiert und immer wieder mal aus dem Fenster gekuckt und schon ist es Zeit für einen Nachmittagssnack. Bei Kaffe / Tee und Keksen macht das Landschaftschauen gleich noch einmal mehr Spaß. Immer noch ziehen Birken an uns vorbei. Die Wälder lichten sich allerdings schon ein wenig und mehr und mehr Steppengras schiebt sich ins Bild.
Endlich wird das Schachbrett ausgepackt. Schon in Wien hatte ich mir mit Silke abendfüllende Schachpartien geliefert, jetzt in der Transsib ist Schachspielen ja fast schon Pflicht. Nach zähem Kampf muss ich mich leider geschlagen geben. Es steht 1:0 für Silke.
Schon verschwindet die Sonne wieder hinter dem Horizont. Der erste volle Tag im Zug neigt sich dem Ende. Mit einem Glas Rotwein und vorzüglichstem Couscous können wir auf einen gelungenen Start ins Abenteuer Transsib anstoßen. Schon jetzt habe ich den Verdacht, dass die Zeit viel zu schnell vergeht.

Transsib Tag 3 – 10.Oktober
Ерофей Павлович: 7081km bis Moskau

Über Nacht sind wir immer weiter in Richtung Norden gefahren. Die Bäume haben nun schon alle ihre Blätter verloren und draussen sieht es ziemlich kalt aus. Gestern konnte man bereits vereinzelt Eis auf den Pfützen erkennen, jetzt treiben bereits Eisschollen auf dem Fluss. Im frühen Morgenlicht glitzert die Landschaft wie eine Diskokugel. Alles ist mit dickem Reif überzogen. Beim ersten längeren Aufenthalt bläst uns ein eiskalter Wind entgegen. Die Wagons dampfen beim Auffüllen der Trinkwassertanks und dicke Eiszapfen hängen bereits vom Fahrgestell. Die Temperatur liegt spürbar unter Null, die Arbeiter am Bahnsteig sind in dicke Jacken gehüllt. Das Klischeebild von Sibirien beginnt sich schon zu bewahrheiten. Die wenigen Dörfer hier in der Gegend machen allesamt einen recht ärmlichen Eindruck. Viele Häuser sind verfallen, oder verlassen. Die hohen Bretterzäune, sind schon vor langer Zeit umgedrückt worden und werden bereits vom hohen Gras überwuchert. Man fragt sich, womit die Leute hier in der Gegend ihren Lebensunterhalt verdienen. Fischen, Jagen und ein wenig Landwirtschaft scheinen die einzigen Erwerbstätigkeiten hier in dieser kargen Gegend zu sein. Anna, eine junge Russin die mit ihrem Mann und ihrer zweijährigen Tochter auf dem Weg zu den Großeltern ist erzählt uns, dass noch vor zwei Wochen hier schon eine geschlossene Schneedecke lag. Die Eisschollen auf dem Fluss zeugen noch vom ersten Kälteeinbruch dieses Jahres. Im Winter kann es hier bis zu -50 Grad kalt werden. Nach gut 10 Minuten auf dem Bahnsteig wird es mir an den Zehen aber auch schon kalt und ich ziehe mich wieder ins leicht überheizte Abteil zurück. An den Wagontüren hatten sich bereits Eisblumen gebildet. Immer noch haben wir das Viererabteil für uns alleine und das obwohl in fast jeder Station Leute zusteigen.
Fürs Erste haben wir den nördlichsten Punkt der Reise bis Irkutsk erreicht. Die Strecke verläuft noch ein Stück westwärts und nimmt dann Kurs in Richtung Südwest. Das Eis auf den Flüssen wird immer weniger und auch die Bäume verschwinden nach und nach. Wir tauchen langsam ein in eine steppenartige Umgebung. Ein kleiner Fluss windet sich durch das breite Tal und zwischen den vereinzelten Bäumen kann man ganz selten ein paar Autospuren im hellbraunen Gras erkennen – zumindest ein kleines Zeichen für Zivilisation. Die Zugstrecke verläuft nun stets parallel zum Fluss, der nach und nach an Breite gewinnt. Von einem nur wenige Meter breitem Rinnsal hat er sich nach ein paar Stunden Fahrt zu einem gut hundert Meter breiten Fluss entwickelt. Immer mehr kleine Siedlungen tauchen nun auf und man sieht bereits die ersten Motorboote auf dem Fluss. Der eisige Wind ist nun wieder verschwunden, aber so wirklich warm ist es trotzdem nicht.
Nach der zweiten Schachpartie steht es Dank Doppeldame 1:1, doch die Revanche folgt sogleich und Silke erhöht wieder einmal auf 2:1. Wir sind nun schon über 48 Stunden im Zug und wundern uns nur, wie schnell die Zeit vergeht. Relativ schnell verliert man das Gespür für Zeit und Ort, man hat das Gefühl sich in einer Blase zu befinden, abgekapselt von der realen Welt. Zu meinem großen Erstaunen fasziniert mich die vorüberziehende Landschaft immer noch so sehr, wie zu Beginn. Schon über 3000km liegen hinter uns – eine schier unvorstellbare Zahl, wenn man bedenkt, dass man erst zwei Tage unterwegs ist. Die erste Zeitzone haben wir bereits überfahren, die nächste steht kurz bevor. Es geht flott voran – fast schon ein wenig zu flott…
Ich bin verwundert, wie sehr im Zug auf die Sauberkeit geachtet wird. Bei jedem größeren Stop werden die Abfalltüten geleert, das Zugpersonal schrubbt den Gang und kehrt die Abteile sauber, die WCs werde regelmäßig geputzt und mit frischen Papierhandtüchern versorgt – ein Service, den man bei europäischen Zuglinien nur selten findet.
Gegen Abend setzt leichter Regen ein und die Nacht wirkt dunkler als sonst. Bis Irkutsk sind es aber noch fast 24 Stunden, also Zeit genug für eine Wetterbesserung. In Karimskaia wird noch einmal kurz Halt gemacht. Hier stößt die Transmangurische Eisenbahnlinie auf die Hauptstrecke der Transsibirischen Eisenbahn. Morgen wird sich der Steckenverlauf der Transmongolischen Eisenbahn mit unserer Strecke kreuzen.
Wie groß Russland eigentlich wirklich ist, wird einem erst bewusst, wenn man sich ein wenig mit den unterschiedlichen Zeitzonen auseinandersetzt. Eine beeindruckende Vorstellung, wenn man bedenkt, dass wenn es hier schon nach Mitternacht ist, es in Moskau gerade erst dunkel wird.

Transsib Tag 4 – 11.Oktober
Петровский Завод: 5752km bis Moskau

Heute Nacht hatte sich noch relativ schnell der Regen in Schnee verwandelt und binnen kürzester Zeit war die Landschaft in märchenhaftes Weiß gehüllt. Im Schein des Maschinistenwagens am Ende des Zuges konnte man die ganze Pracht trotz stockdunkler Nacht bewundern. Ungläubig drückte ich mir die Nase am Fenster platt. Ist der Winter jetzt schon da? Für den Moment kann ich eigentlich noch darauf verzichten. Am frühen Morgen war vom Schnee aber nichts mehr zu sehen und blauer Himmel kündigte einen traumhaften Tag an. Der frühmorgendliche Stop in Petrowski Sabalkalski kam gerade zur rechten Zeit, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Ein eiskalter Wind blies uns um die Ohren und sobald die Sonne hinter den Wolken verschwand wurde es spürbar unangenehm kalt. Ein paar Socken hätte sicher geholfen, aber offenbar ist es in der Transsibirischen üblich, entweder im T-shirt, oder mit kurzer Hose auf dem Bahnsteig zu stehen, ganz egal welche Temperaturen herrschen. Die Russen reisen sehr gerne im Trainingsanzug und mit Pantoffeln. Gerade bei den jüngeren Herren – wie auch bei unserem Schaffner – sind aber gerade knallbunte Bermudashorts im Trend, wahlweise mit nacktem Oberkörper, oder mit kurzem Unterhemd.
Die Uhr wird nun schon wieder eine Stunde zurückgedreht. Es sind noch gut 5700km bis nach Moskau und weitere vier Zeitzonen liegen vor uns. Im Zug ist die Stimmung weiterhin sehr gut. Die Mitreisenden sind immer noch so freundlich und zuvorkommend wie am ersten Tag. Man gewöhnt sich schnell an die Katzenwäsche im Miniaturbad, doch so langsam zeigt die Kleidung schon Spuren der zurückliegenden Tage. So ganz ohne Kleckern gehts irgendwie nicht und mit der Zeit beginnt man auch schon ein wenig zu riechen. Trotz alledem finde ich es schon jetzt irgendwie schade, dass der erste Teil des Abenteuers Transsibirische Eisenbahn heute schon wieder zu Ende gehen soll.
Die Wälder werden nun von immer mehr Kiefern dominiert, es kommen uns auch regelmäßig unglaublich lange Güterzüge entgegen, vollbeladen mit Kiefern- und Birkenholz. Bei Kilometer 5622 stößt die Transmongolische Eisenbahnlinie zu uns und die Agglomerationen von Holzhäusern werden zunehmend größer. Die Details der Holzhäuser werden ausgefallener und es kommt immer mehr Farbe ins Spiel.
Fasziniert von der Landschaft hängen wir gebannt am Fenster und lassen das schöne Bild an uns vorüberziehen. Originalton Silke: “Das hört ja gar nicht mehr auf schön zu sein!”
Kurz vor Mittag erreichen wir Ulan Ude, die erste wirklich große Stadt, die wir in den vergangenen Tagen gesehen haben. Zum Baikalsee ist es jetzt nicht mehr weit. Die Landschaft wird wieder etwas hügeliger und in der Ferne kann man noch Schnee auf den Berggipfeln erkennen. Seit kurzem werden nun auch im Zug Nüsse, Gebäck und geräucherter Fisch aus dem Baikalsee verkauft. Und wie aus dem Nichts taucht dieser dann plötzlich auch am Gangfenster auf. Einem Meer gleich liegt der unvorstellbar große See nun vor uns. Man sagt, es ist der größte Süßwasserbehälter der Welt mit kristallklarem Wasser in Trinkwasserqualität. Die Sicht beträgt stellenweise bis zu 40m. 336 Flüsse münden in den 31500km2 großen und unglaubliche 1700m tiefen See, so zumindest beschreibt Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch einer Sibirienreise (Das grüne Licht der Steppen) den Baikalsee.
Die Bahngleise verlaufen stellenweise direkt am Seeufer. Rechts der blau schimmernde See, links hoch aufragend und Schneebedeckt eine langgezogene Gebirgskette und dazwischen immer wieder ein paar kleinere Dörfer. Die Sonne brennt vom Himmel und heizt das ohnehin schon überhitzte Abteil noch weiter auf. An ein Schließen der Jalousien ist bei dieser grandiosen Aussicht nicht zu denken, da hilft nur noch ein Griff in die Werkzeugkiste, um die Verriegelung des kleinen Klappfensters zu entfernen. Ein Dreikantschlüssel wäre hier sehr hilfreich, aber mit meiner Kombizange kommt man auch schnell zum Ziel.
Wir lassen uns einen geräucherten Fisch mit frischem Couscous, Gurken und Tomaten schmecken, während der See langsam an uns vorbeigleitet. Einige Stunden folgt der Zug dem Seeufer, bevor er in Richtung Norden abzweigt und sich Irkutsk nähert. Der Zug schlängelt sich noch einmal hoch hinauf und gibt einen fantastischen Blick auf den tief unter uns liegenden See frei. Den ganzen Tag über hatten uns heute vor allem Kiefern und Lärchen begleitet, doch nun kommen die Birken wieder zurück. Vom “Indian Summer” ist nur noch ein kleiner Rest zu spüren, der Höhepunkt liegt wohl gerade ein paar Tage zurück.
Irkutsk – manche sagen auch Mittelerde, oder Mittelpunkt der Welt – ist erreicht. Wir haben jetzt schon über 4000km zurückgelegt, eine faszinierende Vorstellung, wenn man bedenkt, dass die Ost-West-Ausdehnung Europas nicht einmal an der 4000km Marke kratzt.
Sibirisch kalte Luft schlägt mir mal wieder entgegen, als ich mein Gepäck auf den Bahnsteig hieve. Noch schnell das Rad aus der Gepäckaufbewahrung in der ersten Klasse geholt und dann auf schnellstem Weg zu unserem Hostel. Die Sonne verschwindet schon langsam hinterm Horizont und eine kalte Nacht zeichnet sich ab.