Tag 266 – 23.Oktober

Moskau – Klin: 116km; 6:24h im Sattel; minus 10 – minus 5 Grad, Sonne
Hotel

Nach 17 Tagen ohne Rad ging es nun endlich wieder mit meinem geliebten Reisetransportmittel weiter. Stanislav musste auch heute wieder früh ins Büro, was für mich ganz gelegen kam, da ich so zeitig genug mich in den Moskauer Morgenverkehr werfen konnte. Ein strahlend blauer Himmel empfing mich heute Morgen, doch schon auf den ersten Metern wurde mir klar, dass es ein recht kalter Tag werden würde. Mit einem Paar Handschuhe hielt ich es gerade mal 10 Minuten aus, dann musste ich das zweite Paar Fleece Handschuhe überziehen. Minus 10 Grad auf dem Rad sind wirklich nicht besonders angenehm, binnen weniger Minuten ist der Bart eingefroren und man spürt jede unbekleidete Stelle am Körper. Im Fluss des Morgenverkehrs ließ es sich verhältnismäßig gut radeln. Zwar gibt es keinen Seitenstreifen auf den vierspurigen Prospekts, dafür fließt der Verkehr aber so langsam, dass man problemlos mit dem Rad mithalten kann. Ich hatte meine Route für heute eigentlich am Kreml vorbeigelegt, doch wie es der Teufel will stand ich plötzlich mal wieder vor der Basilius Katedrale am Roten Platz. Warum also nicht sich noch ein letztes Mal von den bunten Zwiebeltürmen verabschieden? Nun ging es also an der Kremlmauer entlang und zielstrebig zur Stadtausfahrt auf die M10. Nach gut 1 1/2 Stunden Fahrt musste ich mich dann aber völlig durchgefroren in einem kleinen Straßencafe aufwärmen. Hände und Füße waren schon fast taub, doch zum Glück taut man in beheizten Räumen relativ schnell wieder auf, wenn es zu Beginn auch ein wenig schmerzt…
Nach einem heißen Tee und drei Mehlspeisen ging es dann wieder weiter. Trotz wolkenlosem Himmel schien sich die Temperatur nicht wirklich nach oben zu bewegen. Erst am frühen Nachmittag sollte das Thermometer auf minus 5 Grad hinaufklettern. Nach etwa 35km Fahrt war die Stadtgrenze von Moskau erreicht. Den bis zur Stadtgrenze noch äusserst dichten Wohnbau ließ ich nun hinter mir und die für wohl alle Großstädte bezeichnende ausserstädtische Gewerbeansiedlung begann. Baumärkte, Baumschulen und Einrichtungshäuser prägten nun das Landschaftsbild neben der Straße.
Das Wasser in meinen Trinkflaschen war nun gänzlich gefroren, einzige Wasserquelle blieb nun also die Thermoskanne Tee. Der Verkehr ließ auch nach der Stadtgrenze kein bisschen nach. Der Geräuschpegel lag ziemlich hoch, was sicherlich auch an den vielen Winterreifen mit Spikes liegt. Auf dem schmalen Seitenstreifen strampelte ich nun in Richtung Nordwesten, mein Schatten lag immer noch vor mir und die Kälte setzte mir schon etwas zu. Seitdem ich die Stadtgrenze hinter mir gelassen hatte nahm die Siedlungsdichte rapide ab. Immer mehr Holzhäuser reihten sich entlang der vielbefahrenen Bundesstraße auf. Abseits der Straße gab es aber nicht viel zu sehen, weil die M10 fast durchgehend von einer 2m hohen Schallschutzwand begleitet wird. Zum Glück führt die Bundesstraße immer wieder an kleinen Waldstücken vorbei, sodass ich ab und an zumindest dem kräftigen Nordwind entkam. Die niedrigen Temperaturen, der immens starke Verkehr und der konstante Gegenwind machten mir durchaus zu schaffen, sodass ich heilfroh war, am frühen Nachmittag ein kleines Straßenlokal in Mitten von Autowerkstätten zu erblicken. Eine heiße Suppe war genau das Richtige für den Moment. Es dauerte durchaus seine Zeit, bis ich wieder völlig aufgewärmt und bereit für Runde zwei war. Ich stülpte mir die Regenüberschuhe über und hatte von nun an keine kalten Füße mehr. Der Streckenverlauf wurde immer welliger, was in Kombination mit dem Gegenwind nicht unbedingt von Vorteil war, trotzdem kam ich recht gut voran. Solange Hände und Füße warm sind, fühlt man sich auch bei derart kühlen Temperaturen recht wohl. Den Gedanken an Zelten hatte ich aber bereits am frühen Nachmittag begraben. Ziel für den Tag war es, in Klin, der laut Karte ersten größeren Stadt nach Moskau, eine Unterkunftsmöglichkeit zu finden. Noch weit vor Sonnenuntergang erreichte ich Klin und begab mich auf die Suche nach einem Hotel. In Bahnhofsnähe war ganz und gar gar nichts zu finden und so drehte ich ein paar Runden und begann mich durchzufragen. Es kann doch nicht sein, dass eine Stadt über keine Unterkünfte verfügt…. Ich wurde zu zwei unterschiedlichen Hotels geschickt, wovon das erste geschlossen war und das zweite kurz vor dem Abriss stand. Ich war schon kurz davor, nun doch weiterzufahren und irgendwo das Zelt aufzuschlagen, als ich aber noch einen Hinweis auf ein drittes Hotel bekam, das ein wenig entgegen meiner Fahrtrichtung lag. Nachdem ich nun schon fast eine Stunde in Ort umhergefahren war und mich die Vorstellung von frostigen Nachttemperaturen nicht gerade aufbaute, beschoss ich diesem Hinweis noch nachzugehen und siehe da, ich fand eine geöffnete Herberge – scheinbar die Einzige im Ort. Die Rezeptionistin verzog keine Mine als ich mich nach einem Zimmer erkundigte, doch nach mehrfachem Nachfragen bekam ich schlussendlich ein Bett in einem Dreierzimmer. Die Gemeinschaftsdusche spuckte heißes Wasser aus, was nach der frostigen Fahrt heute schon fast einer Wellnessbehandlung gleichkam. Noch kurz ein Schweineschnitzel auf französische Art in dem im Erdgeschoss gelegenen Cafe verdrückt und dann endlich unter die warme Decke.

Tag 267 – 24.Oktober

Klin – Poddubki: 107km; 5:23h im Sattel; minus 5 – 1 Grad, Sonne
Hotel

Schon als ich heute Morgen vor die Tür trat war klar, dass es über Nacht deutlich wärmer geworden war. Die minus 5 Grad in der Früh fühlten sich im Vergleich zu gestern schon fast sommerlich an. Erstaunlich, was fünf Grad Temperaturdifferenz ausmachen können. Der Verkehr hatte heute erfreulicherweise spürbar nachgelassen. Auch die Wellblechzäune am Straßenrand waren verschwunden und so konnte man zumindest einen Blick auf die Häuser am Straßenrand werfen. Man sieht noch erstaunlich viele Holzhäuser, ähnlich derer, die wir in Irkutsk gesehen hatten. Manche davon zwar verlassen, aber ziemlich viele noch gut gepflegt und offenbar dauerhaft bewohnt. Schön anzusehen die filigranen Verzierungen im Dachbereich und um die Fenster herum. Auch bei der Farbgestaltung unterscheiden sich die Häuser deutlich voneinander. Holz als Baustoff ist hier aber augenscheinlich nicht mehr zeitgemäß. Sämtliche Neubauten und auch die Zubauten an die Holzhäuser werden in Ziegelbauweise ausgeführt, was für das Erscheinungsbild der Häuser nicht unbedingt von Vorteil ist.
Der Nordwind hatte ein wenig nachgelassen und so kam ich recht gut voran. Man spürt aber schon, dass die kühlen Temperaturen kein allzuflottes Radeln ermöglichen. Der Krafteinsatz muss wohl dosiert werden, nicht dass man zu sehr schwitzt, da man sonst unweigerlich friert. Der Körper verlangt nach viel Süßem und warmen Getränken. In einer Raststation am Straßenrand ließ ich es mir heute mal richtig gut gehen. Suppe, Schaschlik, Kuchen und Tee… Man spürt, dass man nun weit genug weg vom Einzugsgebiet Moskaus ist. Auch in den günstigen Lokalen zahlte man in Moskau für den Tee ca. 150 Rubel, heute gab es frisch aufgebrühten Tee nach Wahl für sagenhafte 30 Rubel.
Die Sonne arbeitete heute kräftig daran, die Temperaturen über den Gefrierpunkt zu treiben, tat sich aber merklich schwer. Erst am Späten Nachmittag wurde die Null Grad Marke geknackt. Die Straße verlief heute durch scheinbar recht feuchtes Gebiet. Über weite Strecken hinweg sieht man Schilf und Rohrkolben neben der Straße. Zwischendurch immer wieder vereiste Gewässer. Die Flüsse beginnen gerade zuzufrieren, aber trotzdem gibt es schon Mutige, die im Randbereich die ersten Löcher zum Eisfischen aufstechen. Lange verlief die Straße parallel zur Wolga, doch zu sehen war der Fluss erst, als ich in Twer die Brücke über den Fluss nahm. Twer, ein überraschend sympathisches Städtchen, das dank der Ortsumfahrung im Zentrum noch recht beschaulich wirkt. Man spürt den Glanz von vergangenen Tagen. Zu Sowjetzeiten muss Twer eine blühende Stadt gewesen sein. An der sandigen Uferböschung der Wolga bereitet man sich auf den Winter vor. Die Bäume der Uferpromenade werden zurechtgestutzt und das noch verbliebene Laub wird fein säuberlich in Tüten abtransportiert. Das Wasser der Wolga ist überraschend klar. Noch einige Meter vom Ufer entfernt kann man bis auf den Grund sehen. Bis auf ein paar Eltern mit Kinderwagen ist aber niemand auf der Uferpromenade unterwegs, obwohl die Sonne für angenehme Temperaturen sorgt.
Ich überlege kurz, ob ich in Twer Station machen soll, beschließe dann aber doch noch ein paar Kilometer zu radeln und in einem Motel, das auf meiner Karte markiert ist, abzusteigen. Zum Zelten ist es mir heute ehrlich gesagt noch zu kalt und so teuer kann ein Motel ja auch nicht sein – falsch gedacht… Das Einzelzimmer kostet fast dreimal so viel wie ich gestern bezahlt hatte, ein Vielfaches von dem, was ich erwartet hatte. Die nächste Unterkunft ist aber 45km entfernt und in gut einer Stunde geht die Sonne unter. Dann gönne ich mir heute eben einmal eine Luxusherberge. Preisverhandlungen sind in Russland nicht üblich / möglich. Die Zimmerpreise sind mit einem offiziellen Stempel versehen und Rabatte sind keine vorgesehen. Wenn ich die Rezeptionistin richtig verstanden habe, kann sie mir deshalb keinen Preisnachlass geben, auch wenn sie möchte. Die Schilderung meiner bisherigen Unternehmung entzückte sie unmissverständlich, doch auch nach dem Telefonat bei der Direktion gab es keine Ausnahme… Dafür gibts für mich nun einmal die Gelegenheit, meine Klamotten seit Wladiwostok endlich wieder einmal zu waschen. Nach zwei Wochen im Zug hatte die Garderobe schon deutlich zu muffeln begonnen. Die Heizkörper laufen auf höchster Stufe, bis morgen sollte also alles trocken sein.
Immer wieder werfe ich eine Blick auf die Karte und suche nach einer Möglichkeit, die M10 zu umgehen, doch so wie es scheint, ist dies wirklich die einzige Direktverbindung nach St. Petersburg. Alle Straßen, die von der M10 abzweigen enden irgendwo, oder führen in einem riesengroßen Bogen wieder auf die M10 zurück. Bis nach St. Petersburg werde ich also wohl oder übel auf dieser Autobahnählichen Straße bleiben müssen. Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, wird es langsam wärmer. Es scheint, als ob der Nordwesten Russlands nicht so sehr unter den tiefen Temperaturen leidet. Mir soll es recht sein, gegen ein paar Plusgrade habe ich auf keinen Fall etwas einzuwenden.

Tag 268 – 25.Oktober

Poddubki – 20km hinter Wyschni Wolotschok: 133km; 5:56h im Sattel; minus 11 – 1 Grad, Sonne
Hotel

Mein Gefühl hatte mich offenbar doch getäuscht… in der Früh wurde ich gleich einmal mit ziemlich frostigen minus 11 Grad empfangen. Zum Glück schien es aber ein sonniger Tag zu werden. Nach ein paar Kilometern überquerte ich den Fluss Tvertsa und beobachtet eine Weile vom Ufer aus die vielen Eisschollen, die im Fluss trieben und beim Aneinanderreiben eigenartige Geräusche erzeugten. Das Wasser dampfte noch bei den tiefen Temperaturen, ein grandioses Schauspiel mit der Morgensonne im Hintergrund.
Der Verkehr hielt sich zum Glück in Grenzen, denn heute mussten einige Baustellen passiert werden. Die Bagger- und LKW Fahrer, die mich nur mit Unterhemd bekleidet aus dem Führerhaus grüßten waren mir in Anbetracht der tiefen Temperaturen fast schon ein wenig unsympathisch. Aber es passt gut zur Russischen Mentalität, einzuheizen, was das Zeug hält. Heizen kostet offenbar immer noch nicht viel und die Regelung der Heizung läuft meistens über das Fenster. Ist es zu warn, wird einfach das Fenster geöffnet…
Auch wenn es heute wieder einmal grenzwertig kalt war, kam ich recht gut voran, vielleicht auch deshalb, weil der Wind nun endgültig verschwunden war. Trotz meines etwas verspäteten Starts hatte ich gegen 12 Uhr bereits mein Vormittagssoll erreicht und ich konnte mich bei Suppe und Tee ein wenig aufwärmen.
Landschaftlich tut sich nicht recht viel entlang der Hauptverkehrsader zwischen Moskau und St. Petersburg. Meistens geht es durch unterschiedlich dichten Wald hindurch, direkt neben der Straße vielfach Schilfgürtel und kleinere Eisflächen. Kann mir gut vorstellen, dass es im Sommer hier durchaus Probleme mit Moskitos geben kann, so feucht wie die Gegend hier offenbar ist.
Die Besiedelung an der M10 ist wirklich sehr spärlich. Es geht durch fast gänzlich verlassene Dörfer, in denen die meisten Holzhäuser schon vor Jahren dem Verfall preisgegeben wurden, doch immer wieder kommt man auch an kleineren Ansiedlungen vorbei die sehr gepflegt wirken. Die Häuser sind mit verspielten Verzierungen aus Holz dekoriert und die Vorgärten werden offenbar zur Selbstversorgung genutzt. Sonderlich attraktiv ist die Lage an der autobahnähnlichen Schnellstraße ja nicht. Der Transitverkehr als einzige Verdienstquelle… Zwischen Frostschutzmittel und überdimensional großen Stofftieren werden auch eingemachtes Gemüse oder Früchte verkauft.
Erst am späten Nachmittag klettert das Thermometer auf über Null. Die dauerhafte Kälte lähmt schon langsam. Trotz Überschuhen werden die Zehen immer wieder kalt und die Hände wandern abwechselnd auch immer wieder in die wärmenden Jackentaschen.
In Wyschni Wolotschok wird schon eifrig am Eis gefischt. Die große Eisfläche am Stadtrand ist gut besucht und immer wieder sieht man kleinere Gruppen sich um ein Loch im Eis scharen.
Auf Zelten habe ich heute immer noch keine Lust. Die Vorstellung, leicht verschwitzt bei Minustemperaturen das Zelt aufzustellen ist nicht sonderlich verlockend. Im ersten Motel nach Wyschni Wolotschok liegen die Zimmerpreise ebenso hoch wie gestern, was mich dazu veranlasst, doch noch ein paar Kilometer weiterzufahren. Angeblich sollten noch zwei weitere Motels in direkter Nähe sein. Schon nach 5 Minuten Fahrt taucht ein kleines Lokal am Straßenrand auf, das offenbar auch Zimmer zu vermieten hat. Die ganze Anlage wirkt zwar ein wenig verlassen, aber ich versuche mein Glück. Das Doppelzimmer im Bungalow kostet nur die Hälfte von dem, was ich gestern gezahlt habe. Zwar ist das Zimmer ohne Dusche, dafür gibt es direkt gegenüber eine russische Sauna. Was besseres könnte einem wohl nicht passieren.
Nachdem ich den ganzen Tag fast unter Null Grad verbracht habe, sind 120 Grad Raumtemperatur gerade recht. Für die etwas isolierte Lage ist das Banja recht gut besucht. Hauptsächlich LKW Fahrer zählen zu den Gästen. Im Grunde geht man ja zu zweit ins Banja, damit einer die “Behandlung” mit Birkenlaub durchführen kann. Das getrocknete Birkenlaub ist zu handlichen Buschen gebunden und wird in kaltem Wasser eingelegt. Man legt sich flach auf die Sitzbank und wird mit den feuchten Birkenlaubbuschen erst angewedelt und abschließend ausgeklopft. Die meisten Gäste sind bestens fürs Banja präpariert. Man hat eigenes Laub dabei und ein lustiger Filzhut schützt vor den hohen Temperaturen. Es wird viel geplaudert im Banja. Bei den LKW Fahrern geht es hauptsächlich um arbeiten, arbeiten, arbeiten, bei den Einheimischen, die am späten Abend noch das Banja bevölkern werden Abenteuergeschichten aus dem Alltag ausgepackt. Auch wenn ich um ehrlich zu sein noch immer kein Russisch spreche, verstehe ich recht viel, weil die meisten Gäste ihre Erzählungen mit vielen Gesten untermalen und ich so in Kombination mit ein paar Brocken, die ich verstehe, ganz gut den Inhalt der Unterhaltung mitbekomme.
Nachdem ich mich zweimal ordentlich in der Schwitzkammer aufgeheizt hatte, werde ich von einem älteren Russen angesprochen, ob ich nicht das richtige russische Banja ausprobieren möchte und so komme ich am späten Abend unverhofft auch noch zum Ausklopfen mit Birkenlaub. Was will man mehr – ein günstiges Zimmer und ein russisches Banja direkt vor der Tür?
Ich kann mir gut vorstellen, dass in den kalten russischen Wintern das Banja genau der rechte Ort ist, um sich am Abend noch einmal aufzuwärmen.
Wohl zum letzten Mal wird heute Abend noch einmal die Kette gewechselt. Die dritte Kette kommt nun zum dritten Mal in Einsatz. Noch ca. 3000km liegen vor mir, wenn also nicht die Kettenblätter, oder die Kassette schlapp machen sollte sich das also mit dieser Kette noch ausgehen.

Tag 269 – 26.Oktober

20km hinter Wyschni Wolotschok – Krestzi: 125km; 5:40h im Sattel; minus 5 – 4 Grad, wechselhaft
Hotel

Nur minus 5 Grad am Morgen, das kommt ja schon fast einem Frühlingstag gleich… aber kein Grund für meine Füße, einmal nicht kalt zu werden. Gerade im Schatten fühlt sich die Luft noch um einiges kälter an. Für mich schwer vorstellbar, wie es einige der Einheimischen aushalten, bei den frostigen Temperaturen den ganzen Tag am Straßenrand zu stehen und zu versuchen, getrocknete Beeren, Pilze, oder Eingelegtes zu verkaufen. Dick eingepackt stehen sie im Schatten der hohen Bäume und hoffen auf Kundschaft. Einige sitzen im Auto, vermutlich mit Standheizung, andere versuchen sich an kleinen Feuerchen zu wärmen, doch die meisten vertrauen ganz auf die dicken Winterklamotten. Mich fröstelt aber schon alleine beim Gedanken daran… aber vermutlich geht es den Verkäufern ähnlich, wenn sie mich vorbeiradeln sehen.
Heute ist mal wieder ziemlich viel Verkehr auf der M10. Ein LKW nach dem anderen braust an mir vorbei. Autos sind klar in der Minderheit. Man spürt aber schon langsam die Nähe zur Grenze. Immer wieder mal kommt ein LKW mit Europäischem Kennzeichen vorbei. Auch schon das erste Auto mit Berliner Nummer ist mir heute entgegengekommen. Man sieht, die EU ist nicht mehr weit.
So nach und nach wird mir nun erst richtig bewusst, dass ich nun ja schon auf dem Heimweg bin. Ankommen in Wladiwostok und Weiterfahren bis Moskau ging rückblickend betrachtet vielleicht ein wenig zu schnell. Erst jetzt, ein paar Tage, nachdem ich Moskau hinter mir gelassen habe, beginne ich zu begreifen, dass die lange Reise gen Osten erfolgreich beendet wurde. Ein bisschen Stolz kommt schon auf, wenn ich mir vorstelle, die Strecke von Wien bis Wladiwostok fast gänzlich per Rad zurückgelegt zu haben. Jetzt auf der streckenweise ziemlich öden M10 gibt es Zeit genug, die letzten Monate ein wenig Revue passieren zu lassen. Schön ist´s gewesen und viel hab ich gesehen… Ein bisschen was liegt ja noch vor mir, aber im Moment tut sich nicht sonderlich viel. Russland ist ein großes Land, das habe ich schon von der Transsib aus gesehen, doch für die Strecke, die man im Zug binnen einer Stunde zurücklegt, benötige ich jetzt einen ganzen Tag. Viel Kontakt zu Leuten gibt es auch nicht, weil eigentlich niemand zu sehen ist. Ein eigenartiges Stück Land ist das hier. Sinnvoll passieren lässt es sich nur über die Schnellstraße, die Netzartig abzweigenden Nebenstraßen enden meist irgendwo in einem Sumpf. Schade eigentlich, weil ich sehr gerne ein wenig mehr vom dörflichen Leben gesehen hätte. Die Route über die Dörfer zu legen würde fast drei Tage mehr Fahrt bis nach St. Petersburg bedeuten, weshalb ich mich – auch wegen der winterlichen Bedingungen – für die kürzere Variante entschieden habe.
Ein kleiner Lichtblick war heute der Abstecher zum sehr idyllisch gelegenen Dorf Valdai. Gut 20km vorher hatte ich Mittag gemacht und wurde schon davor gewarnt, dass die Straße jetzt welliger wird und einige längere Anstiege zu bewältigen sind. Dafür, dass sich der kleine Umweg übers Dorf auszahlt, gabs aber keinen Tip. Ich benötigte dringend Bargeld und versuchte also in Valdai einen Geldautomaten aufzutreiben. ich war ganz überwältigt von der idyllischen Lage, direkt am See, mit Blick auf eine kleine Insel, die mit mehreren Kirchen vollgestell war. Endlich tat sich auch auf den Straßen wieder was. Leute gingen Spazieren, Kinderwägen wurden umhergeschoben und auf dem zentralen Kirchenplatz traf man sich zum Plaudern. So konnte ich mich relativ leicht zum nächsten Geldautomaten durchfragen, wodurch die Übernachtung für heute Abend nun gesichert war. Am Ortsende befand sich offenbar das Bezirksgefängnis. Ein recht großer Komplex mit hohen Mauern und ziemlich viel Stacheldraht, der an allen vier Ecken von bewaffnetem Personal in Hochsitzen bewacht wurde. Etwas abstus wirkte dabei der kleine Kinderspielplatz zwischen Parkplatz und dem großen Zentraltor.
Zurück auf der “Autobahn” donnerten wieder die Laster an mir vorüber. Man gewöhnt sich recht schnell an den starken Verkehr, doch der Blick auf die Umgebung verändert sich dadurch ebenfalls. Bei so viel Verkehr gehts fast nur noch im Tunnelmodus voran, nur noch das Vorankommen zählt und nur noch selten wird nach rechts und links geschaut. Nachdem sich die Sonne hinter einem dicken Dunstschleier verkrochen hatte, erschien die Landschaft um mich herum nur noch trister. Die verlassenen Holzhäuser wirkten noch verlassener und der ohnehin schon dunkle Wald wirkte noch dunkler. Meine Füße waren den ganzen Tag über nie wirklich warm geworden, also ein guter Grund, eine Unterkunft zu suchen und einmal warm zu duschen. Nach einem Tag in der Kälte habe ich dann auch nichts gegen ein überheiztes Zimmer einzuwenden, was einem hier in Russland ja ziemlich oft begegnet.