Tag 270 – 27.Oktober

Krestzi – Veliky Novgorod: 90km; 3:57h im Sattel; 4 – 6 Grad, bedeckt
Hostel

Die letzten Tage in der Kälte setzen mir anscheinend schon ein wenig zu. Trotz der Umstellung auf Winterzeit fällt es mir Morgens immer schwerer in die Gänge zu kommen. Dafür gab es heute eine freudige Überraschung… Plusgrade schon zum Start. Es scheint, ich habe den russischen Winter hinter mir gelassen. Schon gestern war der Schnee neben der Straße zusehends weniger geworden und nun ist schon gar nichts mehr davon zu sehen. Auch auf den Flüssen sieht man nur noch selten etwas Eis, man könnte schon meinen, es ist Frühling…
Die Sonne lässt sich aber den ganzen Tag nicht blicken, was sich ein wenig auf die Stimmung schlägt. Ich beschließe den heutigen Tag etwas kürzer zu halten und dafür einen Zwischenstop in Veliky Novgorod einzulegen. Auf der Karte sieht es so aus, als ob es sich um eine richtige Stadt handelt. Die 90km bis nach Veliky Novgorod sind heute hauptsächlich eine mentale Herausforderung. Die vorbeidonnernden LKWs, die immergraue Landschaft, die kühlen Temperaturen und die schier endlosen Geraden zehren ein wenig an den Nerven. Es wird Zeit, dass wieder etwas Abwechslung in den Tag kommt. Zumindest nach den überfahrenen Tieren auf der Straße zu urteilen scheinen hier viele Füchse und Waldkauze zu leben. Gestern noch dachte ich – das ist wirklich eine Gegend, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen… Für die Tierwelt ist die Schneise, welche die M10 durch das sonst recht unberührte Terrain schneidet, sicherlich kein leicht zu überwindendes Hindernis. Aber auch für viele Auto- / LKW Fahrer endet die Fahrt auf der Schnellstraße nicht glücklich. Immer wieder sieht man am Straßenrand Mahnmale aus Lenkrädern, Blumenbukets, oder auch nur einzelne Blumensträuße in den Bäumen. Die M10 fordert ob des starken Verkehrs ziemlich viele Opfer.
Wie aus dem Nichts taucht dann die Stadt auf. Kein Speckgürtel, keine vorgelagerte Industrie… Auf einmal ist man mitten drin. Eigentlich ein recht sympathisches Städtchen. Im Hostel bin ich der einzige Gast, und werfe mich gleich einmal unter die heiße Dusche, um die kalten Füße wieder aufzutauen. Dank eines frühen Starts heute Morgen habe ich ausreichend Zeit, mir ein wenig die Stadt anzuschauen. Das Internet bezeichnet Veliky Novgorod als eine der historisch bedeutendsten Städte Russlands. Nun gut, mit solchen Aussagen muss man ja immer ein wenig vorsichtig sein, aber zugegeben – zu sehen gibts vieles. Gegründet wurde die Stadt im Jahr 859 und zählt sicherlich zu den ältesten Städten in Russland. Seit 1992 auch UNESCO Weltkulturerbe. Die Dichte an Kirchen ist schwer zu übertreffen. Im Zentrum der Stadt liegt der Kreml, die alte Burg. Innerhalb der massiven Befestigungsmauer befinden sich zahlreiche historische Gebäude – hauptsächlich Kirchen – aus dem 11.- bis 15. Jahrhundert. Irgendwie beruhigend zu sehen, dass es hier in der Gegend auch etwas anderes als Holzhäuser gibt. Eine der Hauptattraktionen der Stadt, das 1862 eingeweihte Millenium Russia, steht zentral im Kreml und soll an das 1000 jährigen Jubiläum Russlands erinnern. Im zweiten Weltkrieg wollten die Deutschen das Denkmal abtransportieren und nach Deutschland schaffen – man fragt sich schon, auf welche Ideen die Menschen im Krieg oft kommen…
Der Kreml von Novgorod liegt direkt am Fluss Volkhov der die Stadt in zwei Hälften teilt. Im Sommer scheint hier am Ufer viel los zu sein, jetzt bei dem herbstlich grauen Wetter eilen die Leute recht zügig über die Brücke, die Hände tief in den Taschen vergraben, obwohl es eigentlich gar nicht mal so kalt ist.
Für mich mal eine willkommene Abwechslung gemütlich durch die Stadt zu schlendern nachdem ich die vergangenen Tage ziemlich monoton auf dem Rad verbracht habe.
Bis St. Petersburg sind es jetzt vermutlich noch zwei Tagesetappen, dann ist der nördlichste Punkt der Reise erreicht. Ein wenig neugierig war ich ja dann doch und habe die Wetterprognose studiert. Es hat den Anschein, als ob ich wirklich aus dem Gröbsten raus bin. Für St. Petersburg werden 10 Grad plus vorhergesagt. Ein Segen!

Tag 271 – 28.Oktober

Veliky Novgorod – kurz vor Tosno: 130km; 5:20h im Sattel; 10 – 12 Grad, bedeckt / Nieselregen
Hotel

Kaum zu glauben, aber es ist über Nacht wärmer geworden. Endlich wieder angenehme Fahrradtemperaturen. Die warme Jacke bleibt in der Packtasche und auch die Softshellhose wandert recht bald dorthin zurück. Dank leichtem Rückenwind komme ich am Vormittag besser voran als gedacht. Noch gestern Abend hatten sich leichte Erkältungszeichen breit gemacht, doch nun auf der Straße ist alles wieder vergessen. Die Straße vom Stadtzentrum zur M10 wurde kürzlich erst neu geteert und offenbar wurde dabei an die Anwohner gedacht… Flüsterasphalt ist eine fantastische Sache, wird leider viel zu selten eingebaut. Kaum zu glauben, aber man hört von den Autos fast nur noch die Motorengeräusche. Zurück auf der M10 spielt wieder eine andere Musik, hier sind die Motorengeräusche schon gar nicht mehr wahrzunehmen, so dominant sind die Reifengeräusche. Tja, es hätte so schön sein können… An dieser Stelle eine große Bitte an die Asphaltindustrie: mehr Flüsterasphalt anbieten und verbauen!
Bis Mittags gehts gemütlich mit angenehmen Rückenwind dahin. Ich erreiche Tschudowo und kehre zwecks Suppe und Tee kurz ein. Die Sonne hatte gerade eben einen Versuch gestartet, die Wolkendecke zu durchbrechen, da will ich nicht dabei stören. Als ich aber nach einem Doppelpaket Suppe wieder aufs Rad steige, hat sich das Wetter zum Schlechteren gewendet. Es beginnt zu nieseln und das soll nun den ganzen Tag so weitergehen. Bei Tschudowo macht die M10 einen deutlichen Knick nach Westen, weshalb der Rückenwind nun zum Seitenwind wird. Nicht mehr ganz perfekt, aber immer noch besser als Gegenwind. Jetzt befinde ich mich auf der Zielgeraden nach St. Petersburg. Von Tschudowo aus verläuft die Straße ohne eine einzige Biegung für 110km völlig gerade, fast bis ins Stadtzentrum von St. Petersburg. Auch wenn die Verlockung groß ist, in einem Satz werde ich den Sturm auf St. Petersburg nicht schaffen, was vor allem auch am immer ungemütlicher werdenden Wetter liegt. Seitlich neben der Straße sieht man nun immer häufiger schwarze Krater, die wie Brandstellen aussehen, in Wirklichkeit aber die Spuren von Autos / LKWs die von der Straße abgekommen sind. Die Grasnarbe ist aufgerissen und der morastige Boden tritt zum Vorschein. Überall Sumpf… sicherlich kein Spaß, seinen LKW abseits der Straße zu “parken”. Ohne fremde Hilfe kommt man da nicht mehr raus. Ich muss schon sagen, es ist ein eigenartiges Stück Land, durch das ich nun schon seit ein paar Tagen radle. Sümpfe, Wälder und Flüsse ist primär das Einzige was man zu Gesicht bekommt. Ab und an mal eine Ansiedlung, die auf einem scheinbar trockenem Gebiet errichtet wurde, doch direkt daran angrenzend wieder feuchte Wiesen und Wälder.
Feucht ist es jetzt nicht nur abseits der Straße, sondern auch von oben, unten und von vorne… Nieselregen mag ich ja besonders gerne! Am Vormittag hatte ich mich schon auf eine gemütliche Nacht im Zelt gefreut, doch nun saugen sich die Radelklamotten langsam voll und die Lust auf Zelten schwindet zusehend. Bin ich jetzt schon so verweichlicht, dass mich ein bisschen Regen vom Zelten abhält? Die Landschaft um mich herum verschwindet immer mehr im nebeligen Grau und das Sichtfeld wird immer enger. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man nur noch vor sich hin strampelt, nicht mehr rechts oder links schaut und einfach nur noch vom Gedanken an ein trockenes Zimmer angetrieben wird. Kurz vor Tosno taucht dann endlich ein Motel am Straßenrand auf. Das Zimmer kostet das vierfache von der gestrigen Unterkunft, aber an die überhöhten Preise der Motels an der M10 habe ich mich nun ja schon fast gewöhnt. Bequemlichkeit muss auch bezahlt werden…
Es herrschen mal wieder russische Verhältnisse. Der Heizkörper leistet Schwerstarbeit und dank des fehlenden Thermostats sitze ich trotz geöffnetem Fenster bei 26 Grad Raumtemperatur auf dem Bett, dem einzigen kühlen Ort im Zimmer, weil die Zuleitung zum Heizkörper ohne Isolierung unter dem Fliesenboden verläuft.
Etwa 70km liegen nun noch vor mir, dann ist St. Petersburg erreicht und ich kann der M10 endlich auf Wiedersehen sagen…

Tag 272 – 29.Oktober

Kurz vor Tosno – St. Petersburg: 67km; 2:51h im Sattel; 6 – 10 Grad, Sonne
Hostel

Die morgendlichen Wunder reissen nicht ab. Gestern noch den ganzen Abend penetranter Nieselregen und heute Früh strahlender Sonnenschein. Juche, genau das richtige Wetter um den finalen Ritt nach St. Petersburg zu starten. Gut gelaunt fädle ich mich wieder in die Zielgerade ein. Vom schweren LKW Verkehr bin ich die ersten Kilometer noch verschont, da die M10 einen großen Bogen um Tosno machen muss. Am Ortsausgang nehme ich noch einmal die Beine in die Hand und hänge mich hinter eine Kehrmaschine. Die Möglichkeit für Windschatten gabs ja schon ewig nicht mehr. 35 bis 40km/h ist genau die perfekte Geschwindigkeit um mit schwerem Gepäck noch mithalten zu können. Gut 10km hänge ich dann so dicht als möglich hinter der Kehrwalze, schere dann aber wieder aus, um in gemäßigterem Tempo weiterzurollen. Dezenter Rückenwind schiebt mich dann noch ein paar Kilometer weiter und dann beginnt auch schon der Rückstau von St. Petersburg. Das Ortsschild ist noch nicht einmal erreicht, da geht auf den zwei Fahrspuren gar nichts mehr. Es müssen noch gut 25km bis zum Stadtzentrum sein – für motorisierte Verkehrsteilnehmer sicherlich kein Spaß. Für mich gehts am Standstreifen in gewohnter Geschwindigkeit weiter.
Zum ersten Mal tauchen landwirtschaftliche Nutzflächen neben der Straße auf. Offenbar hat man hier in direkter Nähe zur Großstadt dem Sumpf doch noch ein paar Quadratkilometer abgerungen, um Ackerbau zu betreiben. Der Wald verschwindet und nur noch Wiesen und Felder sind zu sehen. Zumindest auf der rechten Seite, weil nach links sehe ich nicht mehr, nachdem mir die LKWs auf zwei Spuren im Stau die Sicht versperren.
Die Vorfreude auf die Ankunft in der Stadt steigt schon langsam. Wie es sich für eine russische Großstadt gehört (St. Petersburg ist immerhin die zweitgrößte) reichen die Wohnblocks bis zum äußersten Stadtrand. Gerade eben noch Feld und Wiese und schon mitten drin im Wohngebiet. Erstmalig gibts auch ein Stück Autobahn zu sehen, ich tauche kurz unter der Autobahnbrücke durch, dann wird die M10 auch schon zum Moskau-Prospekt, der in einem gewaltig großen Kreisverkehr abknickt. Nun hat die 110km Gerade endlich ein Ende gefunden… Ein russischer Prospekt wie aus dem Bilderbuch liegt vor mir. Von einem zentralen Monument im Kreisverkehr ausgehend zieht sich der Moskau-Prospekt bis ins Stadtzentrum. Zu beiden Seiten gewaltige Wohnbauten mit Gewerbenutzung im Erdgeschoß. Weit zurückgesetzt von der Straße und getrennt von einem sehr breiten Gehweg – oder besser gesagt, einem Boulevard. Die auf den ersten Blick monoton wirkenden Wohnbauten werden durch einen alternativen Wohntypus aufgelockert. Völlig überraschend gibt es plötzlich Wohnen über zwei Etagen mit durchgehender Glasfassade über vier Etagen. Mit strengem Blick weist Lenin vor dem Haus der Sowjets den Weg. Ein gewaltig großer Platz liegt hier vor einem. Offenbar sollte ursprünglich hier das neue Zentrum von St. Petersburg entstehen, jetzt liegt der größte Platz der Stadt etwas abseits vom heutigen Zentrum.
Vieles erinnert an die Stadtarchitektur in Moskau, doch im Stadtzentrum finden sich erstaunlich viele Bauten, die klare Züge des Jugendstils aufweisen. In Kombination mit den Kanälen und den vielen Brücken könnte man fast meinen, es handelt sich um eine Mischung aus Venedig, Paris und Moskau.
Pünktlich zur Mittagszeit erreiche ich das Hostel. Lang hält es mich aber nicht drinnen, denn Kaiserwetter lädt zum Flanieren ein. Ein tolles Gefühl nun endlich in St. Petersburg angekommen zu sein. Der letzte Meilenstein in Russland ist erreicht! Als ich vor sieben Tagen in Moskau losgefahren bin, hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Fahrt mental und körperlich derart herausfordernd werden würde. Ich bin froh, wohlbehalten und in ganzen Stücken hier im Norden angekommen zu sein. Sonnenschein und angenehme Temperaturen machen einem das Ankommen aber auch besonders leicht.
Das offene Meer habe ich bis jetzt zwar noch nicht gesehen, aber dazu wird es in den kommenden zwei Tagen noch Gelegenheit genug geben.