Tag 275 – 01.November

St. Petersburg – Narva: 155km; 6:40h im Sattel; 0 – 1 Grad, bedeckt
Warmshowers

Schwer vorstellbar – jetzt bin ich schon seit neun Monaten unterwegs. Die Zeit vergeht wie im Flug. Bald wird die 20.000km Marke geknackt – obwohl ich die gesamte Reise selbst erlebe, jeden Kilometer selbst erstrample und jede Stunde selbst im Sattel sitze, scheinen die trockenen Zahlen für mich immer noch unglaublich. Gut, dass ich alles aufgeschrieben habe, sonst würde ich es selbst nicht glauben…
Von Russland muss ich mich heute, nach fast vier Wochen, verabschieden. Fast schon ein bisschen wenig Zeit, um dieses große und doch recht vielseitig Land kennenzulernen. Aber immerhin konnte ich in einige Teile des Landes meine Nase reinhalten. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es nicht der letzte Besuch in diesem riesengroßen Land gewesen sein wird.
Ein früher Start ist notwendig, um die Etappe bis zur Grenze noch bei Tageslicht beenden zu können. Kurz vor Sonnenaufgang gehts los. Es tut sich nicht viel auf den Straßen von St. Petersburg. Die Sonne erscheint langsam am Horizont und erfreut mit einem kräftigen Morgenrot. Das war es dann aber auch fast gewesen für den ganzen Tag. Dicke Wolken verhüllen den Tag über die Sonne und das Thermometer scheint bei Null Grad festgefroren zu sein. Ich lasse das historische Zentrum der Stadt hinter mir und radle durch die schier endlosen Wohnbezirke mit den unzähligen Wohnblocks. Dicker Reif liegt auf den erst kürzlich vom Laub des Herbstes befreiten Wiesen, nur vereinzelt sieht man ein paar Leute auf der Straße. Es scheint, als ob am Wochenende die Stadt ausschläft.
Es ist weit kühler als gedacht. Ich hatte eigentlich mit Temperaturen um fünf bis 10 Grad gerechnet. Anfangs dachte ich schon, mein Temperaturanzeiger ist defekt, weil sich von Start weg bei den Null Grad in der Anzeige absolut nichts änderte. Erst um kurz vor 15 Uhr sprang das Thermometer auf sagenhafte ein Grad!
Im Gegensatz zur M10, der Achse St. Petersburg – Moskau, ist auf der M11 relativ wenig los. Die anfangs vierspurige Straße wird bald zur zweispurigen Bundesstraße. Zu meiner großen Freude gab es heute auch endlich wieder ein paar Kurven. Diese endlosen Geraden sind schon ziemlich zermürbend…
Ein paar Mal muss ich mich noch mit wild kläffenden und leider nicht angeleinten Hunden rumärgern. Auch wenn ich im Laufe der Reise eine gewisse Gelassenheit gegenüber den oft recht aggressiv wirkenden Tieren entwickelt habe, erhöht sich der Pulsschlag doch immer wieder mal, wenn mich ein Zähne zeigender Köter über einige hundert Meter direkt auf Fußhöhe verfolgt. Für mich immer noch ein Rätsel, weshalb beispielsweise die Hunde in China kaum Notiz von Radfahrern nehmen und schon gar nicht zu kläffen beginnen während hier in Russland die Tiere trotzt höllischem Lärm auf der Straße schon bevor ich sie überhaupt sehe, zu bellen und wild an der Kette zu zerren beginnen. Wissen die Hunde in China, dass sie möglicherweise im Kochtopf landen?
Mittags noch einmal Borsch zur Stärkung. Erstaunlich finde ich, dass Borsch im Grunde überall anders schmeckt. Offenbar gibts hier starke regionale Unterschiede. Nachdem ich meine kalten Füße wieder aufgetaut hatte, konnte ich die finale Runde in Angriff nehmen. Die zwei Ruhetage hatten gut getan und ich fühlte mich trotz der langen Etappe recht wohl auf dem Rad. Nachdem sich die Sonne den ganzen Tag hinter einer dichten Wolkenschicht versteckt hatte, gab es am Nachmittag noch einen kurzen Lichtblick. Schon fast spektakulär erkämpfte sich die Sonne den Weg durch die Wolken, und auch wenn es nicht für lange war, so hob es doch gleich meine Stimmung beträchtlich an. Schon um 16 Uhr erreichte ich Ivangorod, die Grenzstadt auf der russischen Seite. Bereits 10km bevor man Ivangorod erreicht, sieht man aus der Ferne schon den Befestigungsturm der Festung von Narva. Der Turm liegt mittig in der Achse der M11. Die beiden Festungen von Ivangorod und Narva liegen sich direkt gegenüber, der Fluss Narva stellt die Grenze zwischen Russland und Estland dar. Ich habe noch nie zwei Festungen derart nahe gegenüber stehen gesehen.
Die Schlange der wartenden LKWs war erwartungsgemäß ziemlich lange. Was mich überraschte war, dass auch die PKWs sich in einer endlosen Schlange aufreihten. Zum Glück gab es einen separaten Zugang für Fußgänger und Fahrradfahrer. Doch auch hier hieß es Warten. Bei den winterlichen Temperaturen nicht unbedingt das angenehmste, aber nach gut 20 Minuten war ich dann endlich drin, in der beheizten Passabfertigungshalle auf russischer Seite. Ein wenig skeptisch wurde mein Passbild immer wieder prüfend neben mich gehalten. So ganz überzeugt war die Grenzbeamtin offenbar nicht, aber schlussendlich gabs dann doch den Ausreisestempel in den Pass. Auf Wiedersehen in Russland!
Nun dachte ich ist der zeitraubendste Teil vorüber, doch weit gefehlt. Vor der Passkontrolle nach Estland hatte sich schon eine fast 300m lange Schlange gebildet. Es hatte den Anschein, als ob irgendwie die Grenze nur auf Sparbetrieb läuft. Autos, oder LKWs wurden nur stoßweise alle 20 Minuten durchgelassen und auch in der Schlange der Wartenden ging es nur quälend langsam voran. Es dauerte nicht lange und die Kälte kroch in alle Glieder. Ich leerte noch meine Thermoskanne Tee, doch die Schlange bewegte sich praktisch gar nicht. Nach und nach kühlt man ziemlich schnell ab und ich war zum Warten eigentlich viel zu leicht bekleidet. Zum Glück kam mir die rettende Idee, mich einfach in meinen Schlafsack zu werfen. Immerhin ist das Modell ja dazu geschaffen, es auch als große Jacke zu tragen. Von nun an war ich auf der sicheren Seite. Um mich herum versuchten sich die Leute mit allen möglichen Techniken warm zu halten, in meinem Schlafsack herrschte schon bald Wohnzimmerklima. Trotz alledem war das Warten nervtötend. Nach gut zwei Stunden war es dann aber so weit und ich durfte endlich nach Estland einreisen. Das Lächeln der Grenzbeamtin war irgendwie eine Mischung aus Mitleid und Überraschung, aber mein Aufzug samt dem Rad schien ihren Tag ein wenig aufzuhellen. Dank neuer Zeitzone wurden aus den zwei Stunden Warten dann nur noch eine…
Willkommen zurück in der Europäischen Union!
Natürlich war es schon längst stockfinster, doch die Wohnung von Xavier und Valeriia, meinen Warmshowers Gastgebern, war nur einen Steinwurf von der Grenze entfernt. Xavier stammt eigentlich aus Frankreich, seine Frau Valeriia aus der Ukraine. Vor knapp zwei Jahren hatte Xavier ein Jobangebot hier in Narva erhalten und hatte kurzentschlossen seine Zelte in Frankreich abgebrochen. Zur Hochzeit hatten sie sich ein Tandem gekauft und sind seitdem immer wieder gemeinsam mit dem Rad auf Reisen. Kontakt mit Einheimischen in Narva gibt es offenbar recht wenig, da Narva eigentlich ein russisches Ghetto – so wie die beiden es nennen – ist. Es leben fast nur Russen in Narva, die sich gerade in den letzten Monaten sehr patriotisch zeigen. Kaum jemand hier spricht die Landessprache, fast jeder spricht Russisch. Für Xavier und Valeriia sind die vielen Gäste, die sie über Warmshowers oder Couchsurfing erhalten immer wieder eine sehr willkommene Gelegenheit, neue Inspiration zum Reisen zu bekommen. In ein paar Monaten werden die Zelte in Estland wieder abgebrochen, denn es geht vermutlich weiter nach Afrika… Dank Xaviers Tätigkeit als Ingenieur bei der Errichtung von Kraftwerken kann er immer wieder in unterschiedlichen Ländern arbeiten. Auf der Achse St. Petersburg – Tallin werden die beiden aber sicherlich ein großer Verlust für alle Reisenden dieser Strecke sein.
Ich werde sehr herzlich willkommen geheissen. Köstliches Hühnchen wandert kurz nach meiner Ankunft in den Ofen und kurz danach in unsere Mägen. Bei all den netten Gesprächen ist es fast schon ein bisschen schade, dass ich morgen Früh schon wieder aufbreche, aber schließlich habe ich ja noch ein paar Kilometer vor mir, bis ich wieder zuhause bin.

Tag 276 – 02.November

Narva – Jöhvi: 52km; 2:32h im Sattel; 0 – 1 Grad, Regen
Hotel

Seit gestern Abend trennt mich nur noch eine Stunde Zeitdifferenz von zuhause. Vor vier Wochen waren es noch acht Stunden… man sieht, es geht voran. Tallin heißt der nächste Meilenstein. Im Grunde hatte ich geplant, innerhalb von zwei Tagesetappen in der estnischen Hauptstadt anzukommen, doch das Wetter heute scheint mir einen Strich durch meine Planung zu machen. Schon als ich Xavier und Valeriias Haus verlies begann es zu regnen. Ich warf noch kurz einen Blick zurück nach Russland. Von leicht erhöhter Stelle aus kann man hervorragend die beiden gegenüberliegenden Festungen betrachten, auf der Brücke über den Grenzfluss hatten sich gerade eine Handvoll LKWs zur Abfertigung aufgereiht, vereinzelt sah man ein paar Grenzgänger mit Regenschirmen von Russland aus in Richtung Estland zu spazieren. Die lange Schlange von gestern hatte sich aufgelöst, offenbar war ich gerade zur falschen Zeit an der Grenze.
Das kühle und feuchte Wetter vermiesten mir ein wenig die Lust auf eine längere Stadtbesichtigung und so warf ich mich guten Mutes aufs Rad und startete in Richtung Westen. Meine ersten Meter in der Europäischen Union…
Man spürt noch klar den starken Einfluss Russlands. Viele Hinweistafeln sind auch in russisch angeschrieben, manche Geschäfte und Reklamen sind gänzlich russisch gehalten. Xavier hat beispielsweise kein Wort Estnisch gelernt, kommt mit Russich, Englisch und Französisch problemlos um die Runden. Seiner Erfahrung nach zieht sich der starke russische Einfluss fast bis nach Tallin fort. In Narva leben über 60% Russen, in Tallin sind es seiner Aussage nach nur noch 30%.
Der leichte Eisregen vom Vormittag geht recht schnell in kräftigen Dauerregen über. Bei Null Grad Umgebungstemperatur nicht unbedingt die perfekten Bedingungen zum Radeln. Meine wasserdichten Winterhandschuhe liegen irgendwo in China, die Fleece Handschuhe saugen sich langsam, aber kontinuierlich voll und die Hände werden kälter und kälter. Der kräftige, böenartige Wind macht mir ein wenig zu schaffen und das Etappenziel für heute – Zelten am Meer – wird immer unrealistischer. Nach gut 40km im Regen taucht endlich am Straßenrand ein kleines Lokal auf. Aufwärmen, oder gar Auftrocknen ist aber nicht… Es hat vielleicht 15 Grad und einen Heizkörper sucht man vergebens. Drei kräftig angetrunkene Esten lungern an einem der beiden Tische, erklären mir aber gleich sehr zuvorkommend, was man hier alles zu sich nehmen kann. In recht gutem Deutsch entschuldigt sich einer der drei gleich mal für den ersten Eindruck, den ich von Estland bekomme und brilliert mit exakten Angaben zu den Entfernungen meiner bevorstehenden Stationen. Angesichts der momentanen Wetterverhältnisse können sich die drei beim besten Willen nicht vorstellen, wie man seit neun Monaten unterwegs sein kann, aber im Grunde war es ja in den vergangenen Monaten hauptsächlich trocken und warm. Aber egal – für den Moment ist es hauptsächlich feucht und kalt…
Die nächste Stadt, liegt 15km vor mir und danach kommt für eine recht lange Strecke nichts mehr. Nachdem ich schon bis auf die Haut durchgeschwitzt bin und keine Wetterbesserung in Sicht ist, beschließe ich in Jöhvi ein Zimmer zu suchen. Wenn ich Tallin morgen noch erreichen will, muss ich recht zeitig aufstehen, aber bei diesem nervtötendem Regen weiterzufahren wäre schon fast ein gesundheitliches Risiko.
Mitten im Wohngebiet, etwas abseits vom Zentrum prangt es in großen Lettern “Hostel Nele” vom Dach eines Plattenbaus. Der ganze Block scheint ausgestorben, in keinem einzigen Fenster brennt Licht und der zentrale Haupteingang ist abgeschlossen. Ich frage mich in der Nachbarschaft durch und werde zum Eingang des Hotel an der Stirnseite des Gebäudes dirigiert. Dass ich nicht mehr in Russland bin merkt man gleich einmal an der Zimmertemperatur. Die Heizung läuft auf Sparflamme, doch die Besitzerin des Hostels organisiert umgehend einen Radiator, um das schmucke Zimmer auf Temperatur zu bringen. Immerhin ist das Wasser kochend heiß und ich komme langsam wieder auf Temperatur.
Elche habe ich bisher noch keine gesehen, auch wenn sich die Warntafeln dahingehend häufen.