Tag 282 – 08.November

Riga – Kupiskis: 157km; 6:48h im Sattel; 5 – 9 Grad, wechselhaft
Camping

Nach einem Tag Pause in Riga gings nun wieder weiter. Wie durch ein Wunder hatte es sich über Nacht ausgeregnet und mir stand ein überwiegend trockener Radeltag bevor. Es dauerte nicht lange und ich hatte das Ortsschild hinter mir gelassen. Nach gut einer Stunde Fahrt kam dann der große Moment und der Kilometerzähler sprang auf die magischen 20.000 Kilometer. Wahnsinn… 20.000 Kilometer auf dem Fahrrad zurückzulegen, das hätte ich mir noch letztes Jahr nicht vorstellen können und jetzt bin ich mitten drin. Eine halbe Stunde später waren dann auch die 1000 Stunden Fahrzeit erreicht. Ein Tag der großen Zahlen, wie es scheint.
5000 km, das bekommt man schon auch noch ein zweites Mal hin, 10.000 km vielleicht auch noch, bei 15.000 km bin ich mir schon nicht mehr so sicher, aber 20.000 km… keine Ahnung, ob ich das noch einmal erreiche.
Zur Feier des Tages kam dann sogar noch die Sonne zum Vorschein. Ein besseres Geschenk hätte ich mir nicht vorstellen können. Nach tagelangem Radeln in eintönigem Grau endlich wieder blauen Himmel zu sehen ist schon was ganz besonderes. Plötzlich wirkt alles so freundlich und das Radeln fällt einem auch gleich viel leichter. Ich hatte mich heute für eine recht ruhige Streckenführung entschieden und bereits kurz hinter Riga die Schnellstraße verlassen. Der löchrige Asphalt war gleich einmal ein Hinweis darauf, dass die Straße wirklich nicht sonderlich stark frequentiert ist, doch im Grund war es eine gute Wahl, einmal wieder in die Abgeschiedenheit abzutauen. Die Straße schlängelt sich gemächlich durch Wald und Wiesen, nur selten kommt man durch ein kleines Dorf. Die meiste Zeit über ist es bezaubernd ruhig und seit langem kann ich sogar wieder das Rollgeräusch meiner eigenen Reifen hören.
Um Punkt 12 Uhr rolle ich in Skaistkalne, dem Grenzort nach Litauen, ein. Eigentlich hatte ich mich auf eine warme Suppe gefreut, doch bis auf einen kleinen Supermarkt tut sich nicht viel im Ort. Nun gut, dann eben über die Brücke nach Litauen und von dort aus weiter nach Birzai, dem nächstgrößeren Ort in der Gegend. Auf der Litauischen Seite ist ebensowenig los wie auf der Lettischen. Selten mal ein Haus, meistens nur Felder. Die Äcker verströmen noch den Geruch von feuchter Erde, scheinbar wurde erst vor kurzem gepflügt.
Die Sonne verabschiedet sich nun wieder und zurück kommt das feuchtkalte Klima, das ich nun schon so gut kennengelernt hatte. Gut eine Stunde Fahrt und ich erreiche Birzai, dort gibts einen Geldautomaten und ein einziges Lokal im Ort. Litauen ist im Gegensatz zu Estland und Lettland nicht in der Eurozone, also mal wieder Fremdwährung. Das zentral gelegene Gasthaus fungiert mehr als Kantine, denn als Restaurant, was mir eigentlich entgegenkommt. Die Kassiererin lässt mich in alle Töpfe reinschauen und so landet neben Suppe auch noch ein ordentlicher Teller mit Fleisch, Kartoffeln und Gemüse auf meinem Tablett. Ausser mir gibts noch zwei weitere Gäste. Das Personal ist klar in der Überzahl. Eine Kassiererin und fünf Angestellte in der Küche. Wie die Personalkosten gedeckt werden können, wenn ich für mein gesamtes Mittagessen nicht einmal drei Euro bezahle, bleibt mir schleierhaft. Die Softdrinks im Kühlschrank sind doppelt so teuer wie das Bier, das es für weniger als 50 Cent zu haben gibt. Wenn man bedenkt, dass in Russland das Bier stellenweise über 4 Euro gekostet hat… Willkommen in der Europäischen Union!
Nach den ersten Stunden Fahrt lässt sich bereits zweifelsohne feststellen, dass Litauen das ärmste der drei Baltischen Länder ist. Viele Häuser sind verfallen, oder verlassen, der Putz bröckelt von den Fassaden und abseits der asphaltierten Hauptstraße gibts praktisch nur Sandwege. Es geht vorbei an gewaltig großen Stallungen und noch viel größeren Lagerhallen, von denen ein Großteil aber verlassen wirkt. Auf den Wiesen sieht man nur vereinzelt ein paar Kühe, die an Plöcken angekettet vor sich hin grasen. Unzählige Heuballen verrotten auf den endlos weiten Wiesen. Es hat den Anschein, als ob dies noch das Erbe der Sowjetzeit darstellt, als Landwirtschaft nicht im Privatinteresse der Einzelnen betrieben wurde. Der Größe der Stallungen nach zu urteilen muss es hier auf fast jedem Hof mehrere hundert Kühe gegeben haben, jetzt sieht man maximal 20 auf der Wiese.
Immer mehr Storchennester auf Telefonmasten, in Baumkronen, oder auf eigens vorgesehenen Masten tauchen auf. Aber auch hier sind viele schon seit Jahren nicht mehr besucht worden. Hohes Gras und teilweise sogar Kleine Büsche wuchern aus vielen Nestern.
Langsam setzt die Dämmerung ein und ich bin immer noch ein paar Kilometer von Kupiskis entfernt. Die Größe des Ortes ließ mich vermuten, dass es hier womöglich ein Hotel geben könnte, doch nach einer Runde im Ort ist weit und breit keine Unterkunft zu finden. Eigentlich wollte ich ja meinen Jubeltag in einem warmen und trockenen Zimmer ausklingen lassen, doch nun heißt es schnell sein und noch vor Einbruch der Dunkelheit das Zelt auf einer Wiese abseits der Straße aufstellen. Mit etwas Glück hält das Wetter auch noch über Nacht und ich werde vom Regen verschont.

Tag 283 – 09.November

Kupiskis – Vilnius: 159km; 8:41h im Sattel; 5 – 8 Grad, bedeckt
Warmshowers

Glücklicherweise blieb der Regen über Nacht aus und so konnte ich zumindest einigermaßen trocken meine Sachen zusammenpacken. Zelten im einstelligen Temperaturbereich bedeutet aber immer ein gewisses Maß an Kondensfeuchtigkeit, doch was solls, für heute Abend habe ich mir eine private Übernachtungsmöglichkeit bei Mikael über Warmshowers organisiert, da sollte das Zelt dann auch wieder auftrocknen.
Als ob Kupiskis eine Art Trennlinie dargestellt hätte, verschwanden die weiten Felder und die verlassenen Ställe fast auf einen Schlag und statt dessen wurde die Landschaft um einiges hügeliger. Man sah kaum noch landwirtschaftlich genutzte Flächen neben der Straße, dafür viele Wiesen, die nicht bewirtschaftet werden und dem natürlichen Kreislauf von Wachsen und Vergehen hingegeben sind. Wirklich nur äusserst selten bekam ich mal ein Haus zu Gesicht. Ähnlich wie in der Grenzregion zu Litauen sieht man bei fast jedem Haus einen Ziehbrunnen im Garten stehen. Ob die Häuser an die Wasserversorgung angeschlossen sind ist zu bezweifeln. Sicherlich kein leichtes Leben hier in der Einöde. Auffallend viele Holzkreuze sieht man nun am Straßenrand. Diesmal aber nicht als Gedenkstätten für Verkehrstote, sondern “einfach nur so”. Meist recht kunstvoll geschnitzt und mit unterschiedlichen Heiligenfiguren besetzt stehen sie immer ein paar Meter von der Straße abgerückt.
Binnen kürzester Zeit wurden meine Füße mal wieder eiskalt. Die Taktik, mit zwei Paar Socken zu radeln und dadurch vielleicht ein wenig wärmere Füße zu bekommen, bewirkt offenbar einen gegenteiligen Effekt. Zum Glück war der nächstgrößere Ort, Utena, nicht mehr allzuweit entfernt. Utena wirkte schon richtig städtisch nach den vielen Kilometern im Hinterland. Viele Plattenbauten prägten das Ortsbild, doch das wichtigste für mich war eigentlich ein gut beheiztes Lokal. Meine Wahl fiel auf eine Pizzeria, in der ich mich direkt neben dem Heizkörper niederließ und erst einmal langsam wieder warm wurde. Als Wiedergutmachung gabs auf den ersten Kilometern nach der Mittagspause dann sogar ein paar Sonnenstrahlen. Die ruhigen Nebenstraßen ließ ich nun hinter mir und fädelte mich auf die A14 ein. Von nun an gings wieder im gewohnten Verkehrsfluss direkt in Richtung Vilnius. Die Kilometer tröpfelten gemächlich vor sich hin und Schritt für Schritt kam ich der Hauptstadt von Litauen ein wenig näher. Etwa 25km vor Vilnius tauchte dann ein Wegweiser zum “Zentrum Europas” auf. Das musste ich mir natürlich näher anschauen. Den 1989 durchgeführten Berechnungen des nationalen Geografieinstituts Frankreichs soll sich demnach der Flächenschwerpunkt des europäischen Kontinents direkt hier in Litauen, nur ein paar Meter neben der A14 befinden. Wie man sich denken kann, beanspruchen durchaus einige Orte in Europa den Titel “Mittelpunkt Europas”, was sicherlich auch korrekt ist, denn die Möglichkeiten, einen Mittelpunkt zu bestimmen sind vielfältig. Dass es sich aber hier um den “einzig wahren Mittelpunkt” handelt verdeutlicht ein Zitat von der Infotafel:
“Ungeachtet dessen, dass einige Länder sich eines geographischen Mittelpunkts Europas rühmen, liegt das tatsächliche und einzige Zentrum Europas in Litauen. Dies haben Messungen des Französischen Nationalinstituts für Geographie ergeben. Diese Tatsache ist auch im Guinness-Buch der Rekorde registriert.”
Ich gehe mal davon aus, dass ähnliche Sätze an allen anderen “Zentren Europas” zu finden sind, aber nun bin ich einmal hier und kann behaupten, einmal in der absoluten Mitte gestanden zu haben.
Auf den letzten Kilometern bis ins Stadtzentrum begann es dann wieder einmal kräftig zu dämmern, doch immerhin erreichte ich dank einer schönen langen Abfahrt Mikaels Wohnung noch vor Einbruch der Dunkelheit. Bin schon sehr gespannt auf den morgigen Stadtrundgang. Von der A14 aus sah man bereits unzählige Hochhäuser, die eine völlig andere Sprache sprechen, als all das, was ich in den vergangenen zwei Tagen unterwegs gesehen habe.
Mikael und seine Freundin sind sehr erfahrene Gastgeber bei Couchsurfing und Warmshowers. Regelmäßig kommen Leute bei ihnen vorbei und verbringen ein paar Tage bei ihnen. Ich komme genau zur rechten Zeit – Kürbissuppe ist soeben fertig geworden und wartet darauf verköstigt zu werden…

Tag 284 – 10.November

Vilnius: 1 Ruhetag; bisher geradelt: 20.290km; 1011:50h im Sattel; 8 – 10 Grad, bedeckt
Warmshowers

Nun bin ich also in Vilnius angekommen und habe somit die Hauptstadt des dritten Baltischen Staates erreicht. In Litauen wird in knapp zwei Monaten der Euro als offizielles Zahlungsmittel eingeführt, bis dahin wird noch alles doppelt ausgezeichnet. Erinnerungen an die Euro-Einführung 2001 kommen auf, als auf den Speisekarten auch noch recht krumme Euro-Beträge zu lesen waren. Im Fernsehen laufen recht motivierte Werbespots für das neue Zahlungsmittel und in vielen Geschäften hängen Plakate mit den Euro-Ausführungen der einzelnen Mitgliedsstaaten. Man spürt, es steht eine kleine Veränderung bevor.
Ich weiß nicht, ob man Vilnius jetzt stellvertretend für das ganze Land betrachten kann, aber auch hier in der Stadt kann man ein starkes Gefälle von alt zu neu, von traditionell zu modern, von arm zu reich erkennen. Bereits gestern hatte ich bei meiner Ankunft aus der Ferne die Hochhäuser des Büro- und Geschäftsviertels erkennen können. Ein klares Zeichen, dass hier investiert wird und an einer florierenden Zukunft gearbeitet wird, doch in der direkten Nachbarschaft der neu errichteten Hochhäuser befindet sich ein recht großer Wohnbezirk, der fast ausschließlich aus einstöckigen Holzhäusern besteht. Die Erschließungswege sind größtenteils nicht einmal befestigt und man hat fast den Eindruck, sich in einem Ghetto zu bewegen. Doch zum Zentrum von Vilnius sind es nur ein paar hundert Meter. Größer könnte der Kontrast wohl nicht sein, doch irgendwie trifft sich das auch mit dem Bild das ich von Litauen auf meiner bisherigen Fahrt bekommen habe.
Von den drei baltischen Staaten, so habe ich zumindest den Eindruck, spürt man in Litauen den vergangenen Einfluss der Sowjetrepublik noch am stärksten. Womöglich auch deshalb, weil im historischen Stadtzentrum ein beachtlicher Teil der Stadtstruktur starken Eingriffen der sowjetischen Stadtplanung unterworfen war. Viele Gebäude und ganze Straßenzüge wurden nach dem zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgebaut, sondern mussten statt dessen der sowjetischen Moderne Platz machen. Wenn man sich jetzt durch das enge Gassengewirr treiben lässt, stößt man immer wieder auf absolut fremdartig wirkende Baukörper.
Generell unterscheidet sich Vilnius stark von Riga, oder Tallinn. Die Stadt wirkt viel verwinkelter und es ist zumindest für den Anfang ein bisschen schwierig, sich zu orientieren. Nachdem ich ein paar Mal im Kreis gelaufen bin klettere ich erst einmal auf einen der umliegenden Hügel und verschaffe mir so ein wenig Überblick über die Stadt. Unzählige Kirchen auf unterschiedlichsten Niveaus mit ebenso vielen Mauern erklären, weshalb die Stadt im ersten Moment ein wenig verwirrend wirkt. Der Fluss Neris trennt die Altstadt vom neueren Teil der Stadt in dem sich sowohl das moderne Büro- und Geschäftsviertel entwickelt, sich aber auch die unzähligen Wohnblocks aus Sowjetzeiten befinden. Ein riesengroßes Areal mit Fußballarena, Schwimmbad und Konzerthalle schlummert offenbar schon seit einigen Jahren im Dornröschenschlaf. Das Gras am Fußballfeld ist schon kniehoch, vom Schwimmbad sind nur noch die Sprungtürme aus massivem Beton zu sehen und die Konzerthalle hat ihre Tore auch schon lange geschlossen. Schade eigentlich…
Den vielen Gedenktafeln an den Hausfassaden nach zu urteilen muss es in Vilnius vor dem Zweiten Weltkrieg eine recht hohe Dichte an jüdischer Bevölkerung gegeben haben. Nun lebt nur noch ein kleiner Rest hier in der Stadt. Jene Gebetshäuser, die von den Nazis nicht gänzlich zerstört wurden, hatten die Sowjets schlussendlich beseitigt.
Vom großen finanziellen Aufschwung wie beispielsweise in Riga zur Jahrhundertwende ist hier in Vilnius nicht viel zu spüren, die Altstadt erzählt vielmehr eine recht breit gefächerte Geschichte.
Irgendwann ist bei mir dann aber auch der Punkt erreicht, an dem ich mich dem feuchtkalten Wetter beuge und langsam den Heimweg antrete. Die Vorstellung von einem gut geheizten Wohnzimmer und ein paar Stunden ohne Bewegung sind schlussendlich doch zu verlockend. Die kommenden Tage werden ohnehin wieder mit viel Aktivität gefüllt sein. Schon morgen Früh gehts weiter in Richtung polnische Grenze. Wenn alles nach Plan verläuft werde ich in fünf Tagen Danzig erreichen und mich dort dann wieder mal einen Tag auf die faule Haut legen, noch einmal etwas Ostseeluft schnuppern und dann in Richtung Deutschland weiterradeln. In etwas mehr als einer Woche werde ich dann zum ersten Mal wieder im deutschsprachigen Gebiet unterwegs sein.
Vorerst bin ich aber mal sehr gespannt darauf, was Polen zu bieten hat. Die Strecke führt mich durch die Masuren, eine große Seenlandschaft im früheren Ostpreussen. Vielleicht lässt sich da ja schon ein netter See auskundschaften, den man im Sommer mal per Boot erkunden kann…