Tag 294 – 297 | 20. – 23. November

Berlin, 4 Ruhetage; bisher geradelt: 21.528km; 1065:05h im Sattel
Privatunterkunft

Ein Blick auf die große Weltkarte zeigt schon, dass sich der Kreis langsam zu schließen beginnt. Am 23. Oktober bin ich in Moskau wieder aufs Rad gestiegen und habe mich in Richtung Heimat aufgemacht. Nach nicht einmal vier Wochen auf der Straße kam ich dann glücklich und wohlbehalten in Berlin an. Zum ersten Mal fühlt es sich bereits so an wie ein kleines Heimkommen. Berlin, eine Stadt mit der ich sehr viele Erinnerungen verbinde, nachdem ich hier vor Jahren bereits einmal gelebt hatte und es noch immer zahlreiche Freunde in der Stadt gibt. Zum ersten Mal komme ich in einer Großstadt an und es geht plötzlich nicht mehr darum, die Stadt zu erkunden, sondern eigentlich nur noch darum die alten Freunde anzurufen und der Reihe nach zu besuchen. Manfred, ein früherer Studienkollege nimmt mich auch dieses Mal wieder herzlichst bei sich in der neuen Wohnung auf. Hier schlage ich für drei Tage mein Lager auf. Manfred muss am Sonntag allerdings nach Südtirol reisen, daher ziehe ich am vierten Tag noch zu Julian um. In der Vorbereitung meiner Reise hatte mir Julian tatkräftig zur Seite gestanden und nun gibt es endlos viel zu berichten.
Mein letzter Besuch in Berlin liegt nun doch schon einige Zeit zurück, doch sehr vieles ist beim Alten geblieben. Immer noch sieht man unzählige Fahrradfahrer auf der Straße, auch wenn die Temperaturen schon langsam unangenehm werden. Es ist schön, nun wieder mit derart vielen Radfahrern umgeben zu sein, sich in einer Stadt zu bewegen, die von Fußgängern und Radfahrern geprägt ist und der Autoverkehr zum größten Teil zur Rücksichtnahme verpflichtet ist. Wenn ich da zurückdenke an die Verhältnisse in Moskau, wo man als Fußgänger zu immens langen Umwegen gezwungen wird, um nur die Straße sicher überqueren zu können, befinde ich mich momentan ja direkt im Paradies.
Die Berliner U-Bahn wirkt im ersten Moment direkt ein wenig mickrig, die Züge verhältnismäßig kurz, die Wegstrecken zwischen den Stationen nicht sonderlich lange. Jetzt gelten wieder andere Maßstäbe. Drei Millionen Einwohner und damit die größte Stadt Deutschlands, aber im Vergleich zu den Metropolen in China, oder Russland eben doch nur eine Kleinstadt. Allerdings schadet es nicht, den Maßstab nun langsam wieder zu verkleinern.
Die emotionalen Verwirrungen der ersten Tage in Deutschland sind nun wieder verschwunden, doch trotzdem freue ich mich sehr, wieder zurück in der Heimat zu sein. Ankommen in Berlin fühlt sich so an, als ob ich nie weg gewesen wäre. Zielsicher bewege ich mich mit dem Rad durch die Stadt und freue mich über das breite Netz an Radwegen. Mit Philipp, einem alten Schulfreund erkunde ich in Neukölln die verbliebenen Berliner Eckkneipen, die nun ihre Bezeichnungen von Bier- und Speisegaststätten auf Biergaststätten geändert haben, nachdem in Raucherlokalen keine Speisen mehr angeboten werden dürfen. Vom früher so dichten Netz an Eckkneipen ist nicht mehr allzuviel übrig. Selbst vor dem tiefsten Neukölln macht die Gentrifizierung nicht Halt und die alteingesessenen Lokale werden von schicken Läden verdrängt. In Gassen, die vor Jahren Nachts noch stockdunkel waren tobt nun das Leben. Eine Entwicklung die grundsätzlich zu begrüßen wäre, wenn nicht parallel dazu die Mietpreise explodieren würden. Die Miete, vor allem die gestiegene Miete, ist immer wieder ein drängendes Thema bei vielen Unterhaltungen. Doch solange zahlungskräftige Mieter in die Stadt ziehen, wird sich diese Entwicklung auch fortsetzen. Auf den Straßen vernimmt man ein intensives Sprachengewirr. Spanisch, Französisch, Italienisch, Englisch, Russisch etc. mischt sich mit dem bereits zum Alltag gewordenen Türkisch. Berlin, die Multikulti Stadt, die ein Nebeneinander unterschiedlichster Kulturen fast überall zulässt und auch fördert. Die Speisekarten der neuen Kneipen sind häufig bereits nicht mehr in Deutsch, sondern in Englisch geschrieben, um jedem Gast dieselbe Chancen zu geben… Stellenweise fühle ich mich fast schon wieder zurückversetzt in die zurückliegenden Länder, als ich beim Essen kein einziges Wort von den Nebentischen verstanden habe. Es fühlt sich auch überraschend vertraut und gewohnt an, wieder das Kopftuch auf den Straßen zu sehen. Viele Monate war ich nun in Ländern unterwegs, in denen das Kopftuchtragen Alltag war, seit ich nach China eingereist war, hatte sich das wieder verändert, doch nun kommen wieder Erinnerungen auf.
Schön ist es, das Zurückkommen gleichzeitig mit vielen Erinnerungen aus der Reise verbinden zu können. Schön ist es auch zu sehen, dass die Freunde meine Reise immer wieder mit großem Interesse verfolgt hatten und sich nun richtig darüber freuen, mich persönlich begrüßen zu können. So hat das viele Schreiben und die Pflege des Blogs doch auch seien Sinn erfüllt. Obwohl ich alleine gereist bin, war ich nie wirklich alleine.
Ein bisschen fühlt es sich nun ja schon so an, als ob ich zuhause wäre, doch die letzte Etappe liegt noch vor mir. Für mich fühlt es sich noch völlig unreal an, nur noch ein paar Tage von zuhause entfernt zu sein. Berlin – Wien bin ich schon so oft mit dem Flugzeug, dem Bus, dem Zug, oder dem Auto gefahren. Mit dem Rad wird es nun eine Premiere werden. Doch ich freue mich schon tierisch darauf. Bis Prag sind es nur doch drei Tage Fahrt, dann nur noch zwei Tage bis zu meinen Eltern und dann nur noch drei Tage bis nach Wien. Wenn ich es mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, dann würde ich einfach sagen: UNGLAUBLICH
Unglaublich, obwohl ich alles selbst erlebt habe und auch noch erleben werden, doch selbst bei beinen Erzählungen wirkt vieles so unreal. Die Strecken so weit, die Zeiträume so lange und die Vorstellungskraft irgendwie beschränkt. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, bis ich meine eigene Reise zur Gänze verstanden habe. Gerade jetzt, da ich vieles aus den vergangenen Monaten wieder erzähle und mir Leute unzählige Fragen stellen, beginne ich damit, das Erlebte langsam zu verstehen. Ich gehe mal davon aus, dass dies durchaus noch ein längerer Prozess werden wird.
In Leipzig treffe ich nun auch wieder mit Natascha und Friedemann zusammen, dem Deutschen Tandempaar, das ich in der Türkei und auch in Georgien getroffen hatte. Wie gesagt, der Kreis beginnt sich zu schließen. Beim Gedanken an die noch vor mir liegenden Etappen werde ich schon ganz unruhig, die Vorfreude wächst immer noch Tag für Tag und ein klein wenig aufgeregter werde ich auch schon jeden Tag.
Manche Radreisenden hatten mir erzählt, dass der schwierigste Teil der gesamten Reise wohl das Heimkommen werden würde. Für mich war der schwierigste Teil wohl eher das Losfahren und das Heimkommen entpuppt sich als ein überaus schöner Teil. Noch immer bin ich froh darüber, nicht mit Zug, oder Flugzeug den direkten Weg nach Hause gewählt zu haben. Die langsame Annäherung hat durchaus ihren Reiz.
Noch knapp 1000 Kilometer liegen vor mir – hört sich viel an, ist es aber nicht… Im Vergleich zu dem, was schon hinter mir liegt, ein Katzensprung!