Tag 212 – 31.August

Datong – kurz vor Yangyuan: 64km; 2:42h im Sattel; 23 – 25 Grad, Sonne
Camping

Datong zählt nicht unbedingt zu den Städten mit der größten Anziehungskraft für Touristen. Für viele ist der Einzige Grund, die Stadt zu besichtigen ein Besuch der Yungang Grotten, oder des in eine senkrechte Felswand gebaute Kloster. Von Peking aus gibt es keine Schnellzugverbindung, was sicher auch einen Großteil der Touristen davon abhält, hier kurz Station zu machen. Es scheint aber so, als ob man den Tourismus stark ausbauen möchte. Auf den ersten Blick macht Datong einen sehr ansprechenden Eindruck. Ähnlich wie in Pingyao gibt es eine imposante Stadtmauer, die sich um einen Altstadtkern zieht. Teile der Altstadt wirken wie von vor 300 Jahren. Auf den zweiten Blick erkennt man aber, dass all das, was historisch wirkt in Wirklichkeit erst vor kurzem erbaut wurde. Die eigentliche Altstadt, ein Sammelsurium von baufälligen Hütten wird Schritt für Schritt demoliert und durch eine Bilderbuchaltstadt ersetzt. Mit der Authentizität nimmt man es in China ja ohnehin nicht so genau, hier ist oft der erste Eindruck entscheidender. Ausserhalb der Stadtmauern schießen die Hochhausbauten in die Höhe. Kevin erklärt mir, dass der Baugrund für die Hochhäuser anfangs dem Staat gehörte und dieser nun Parzellen für teures Geld verkauft. Es stellt sich die Frage, ob auf diese Weise der Finanzhaushalt aufpoliert wird… Natürlich versucht jeder Käufer den größten Profit aus dem Baugrund zu schlagen und so wird ohne Rücksicht auf die Nebengrundstücke so viel als möglich gebaut. Hier in Datong fällt auf, dass besonders im Luxussegment Käufer angesprochen werden. Schautafeln spiegeln eine Luxusgesellschaft vor, die in großen Apartments nach europäischem, oder amerikanischen Vorbild lebt und in der Freizeit in großen Malls bei den Designerläden ihr Geld lässt. Auch in Datong wird ähnlich wie in Taiyuan viel Rad gefahren. Steigt mit dem Wohlstand einer Stadt auch wieder die Zahl der Fahrradfahrer? Eigentlich paradox, aber hier würde es zutreffen. Nach Kevins Auskunft gibt es in der Stadt über 20 Fahrradgeschäfte, die hauptsächlich importierte Räder verkaufen. In Kevins laden treffen sich regelmäßig Fahrradbegeisterte zu gemeinsamen Touren. Schon vier Mal wurde die Strecke nach Laasa absolviert, mehrere Male ging es ins Himalaya Gebirge und jedes Wochenende wird im Umkreis von Datong geradelt.
Meine Augen begannen ein wenig zu leuchten, als ich unter all den neuen Rennrädern und Mountainbikes ein unrestauriertes Colnago Master Piu erblickte. Wie kommt ein derart edles Stück Fahrradgeschichte nach China? Offenbar befand sich der feine Stahlrenner im Besitz der nahe gelegenen Sportschule und wurde an die Schüler für Trainingsfahrten verliehen. Jetzt wird es von ein paar Jugendlichen wieder mal generalüberholt. Nach Monaten Abstinenz endlich einmal wieder ein wirklich schönes Fahrrad zu Gesicht zu bekommen macht den Tag gleich mal zu was Besonderem.
Mittags werden wir noch großzügigst von Kevins Frau bekocht. Es gibt frische Dumplings mit Tofugemüße in Restaurantqualität. Das Essen in China begeistert mich immer noch. In den letzten Tagen war ein deutlicher Wandel im Essen zu spüren. Die schweißtreibende Schärfe, wie sie noch im Westen des Landes üblich war, verschwindet langsam und es gibt vermehrt frisches Gemüse und Salate. Auf meine Nachfrage hin wird anscheinend hier in der Gegend auch vereinzelt Hund gegessen, obwohl dies mehr für den Norden typisch ist. Hier in Datong geht man mehr dazu über, Hunde für teures Geld als Haustiere anzuschaffen.
Gestern hatte ich ja in Kevins Zweitwohnung übernachtet. Seine eigentliche Wohnung befindet sich im Neubaugebiet von Datong. Vor 15 Jahren gab es hier noch Felder und Wiesen und vereinzelt ein paar kleinere Dörfer. Kevins Familie besaß drei Häuser, die im Zuge des geplanten Baugebietes abgerissen werden mussten. Als Gegenleistung erhielten sie fünf Appartementwohnungen in den neu errichteten Hochhäusern. Das traditionelle Haus mit dem großen schattigen Innenhof vermisst Kevin auch heute noch.
Um kurz nach 14 Uhr bin ich dann wieder auf der Straße und rolle aus der Stadt. Das Neubau-Wohngebiet endet fast schlagartig und geht direkt in eine Gewerbezone über. Autohaus reiht sich an Autohaus, wobei auffällt, dass vor allem Luxusmarken hier ihre Modelle präsentieren. In Datong hat man zum ersten Mal den Eindruck, dass hier Wert auf Architektur gelegt wird. Schon das Museum bei den Yungang Grotten war auffallend konzeptionell gestaltet und nun entdeckt man vor allem bei den Neubauten auch immer wieder Gebäude, die sich deutlich vom umgebenden Einheitsbrei unterscheiden. Ist hier die Nähe zur Hauptstadt spürbar, oder hat man hier in der Gegend generell mehr Verständnis für Gestalt und Form?
Die ersten Dörfer durch die es heute geht machen auch alle einen erstaunlich sauberen Eindruck. Die weiß getünchten Ziegelhäuser mit dem hohen Dachfirst wirken sehr traditionell. Auch abseits der Straße sieht man nun wider vermehrt Esel auf den Feldern und Wiesen.
Es geht ziemlich flach dahin, rechts der Straße taucht nach gut einer Stunde eine steil aufragende Hügelkette auf. In der Ebene gibt es erstaunlich wenige Siedlungen. Man radelt über viele Kilometer hinweg entlang von unbewirtschafteten Feldern und Baumplantagen, für mich die perfekte Gelegenheit, einmal wieder einen Zeltplatz mit Aussicht zu finden. In Mitten einer abgeernteten Aprikosenplantage findet sich ein traumhafter Platz mit bestem Blick auf die Bergkette. Nur ein paar Hirten treiben sich hier mit ihren Schafen und Ziegen rum. Ein bisschen neugierig sind sie ja dann doch, aber so wirklich ins Gespräch kommt man mit ihnen dann doch nicht. Sobald klar ist, dass ich kein Chinesisch spreche dreht man sich lachend zur Seite und zieht mit den Tieren weiter. Für mich trotzdem ein Erfolgserlebnis, dass ich immerhin einem von vier erklären konnte, dass ich von Deutschland aus hierher geradelt bin. Es ist immer wieder ein kleiner persönlicher Erfolg, wenn man sich zumindest mit einem Satz verständlich machen kann…

Tag 213 – 01.September

kurz vor Yangyuan – Dapuzhen: 138km; 6:22h im Sattel; 19 – 25 Grad, bedeckt
Camping

Eigentlich hatte ich mich heute Morgen beim Öffnen des Zeltes auf einen grandiosen Ausblick gefreut, doch von den Gestern noch so imposant wirkenden Bergen war heute nichts mehr zu sehen. Die Sicht betrug maximal einen Kilometer, danach verschluckte der bereits so gut bekannte Dunst jede Sicht.
Zurück auf der Landstraße donnerten die LKWs wieder an mir vorbei. Soweit ich mitbekommen habe, beginnt in China heute wieder die Schule, davon war zumindest in der Gegend in der ich unterwegs war nichts zu sehen. Bisher sind mir aber auch in den wenigsten Dörfern Schulen aufgefallen. Bin gespannt, ob mir in den kommenden Tagen mal ein paar Schulkinder begegnen. Zwei Monate Sommerferien sind nun auf alle Fälle um.
Seit heute bin ich mal wieder in einer neuen Provinz unterwegs. Wo genau weiß ich nicht, aber auf alle Fälle habe ich heute die Provinzgrenze zu Hebei überschritten, die Peking auf drei Seiten umschließt. Es ist nun wirklich nicht mehr weit bis zur aktuellen Hauptstadt Chinas. Ich bin mir immer noch nicht so ganz sicher, ob ich schon morgen, oder sehr gemütlich übermorgen in der Metropole einrollen soll. Ich werde heute erst mal noch einmal darüber schlafen.
Die Kohlenindustrie scheint in dieser Gegend nicht so sehr Fuß gefasst zu haben. Die Straßenränder sind nun nicht mehr schwarz, sondern nur noch mit dem üblichen Staub bedeckt. Trotzdem donnern immer noch viele mit Kohle beladene LKWs die Straße entlang.
Mittags wird heute mal wieder Essens – Roulette gespielt. Vor dem Lokal steht ein halbes Duzend LKWs. an sich immer ein sehr gutes Zeichen für die zu erwartende Küche. Mit großen Augen werde ich begutachtet, als ich mit rußgeschwärztem Gesicht die Gaststube betrete, aber eine Kellnerin ist gleich zur Stelle und legt mir freundlich lächelnd die Karte auf den Tisch. Zielsicher deute ich auf eine Zeile, die mit einem schönen Symbol beginnt und lehne mich erst mal zurück. Bin gespannt, was es diesmal wird. Das Essen auf den Nachbartischen sieht zumindest sehr vielversprechend aus. Als das erste Teller aus der Küche kam war ich kurz einmal geschockt, es sah so aus, als ob ich einen Riesenteller Peperoni bestellt hätte, doch zum Glück waren es frittierte Bohnen mit unsagbar vielen Peperoni. Das Beste war aber, dass es dazu noch frische Dumplings gab. Anscheinend isst man hier als Grundgericht Dumplings und bestellt dazu die gewünschte Zuspeise. Auf Einzelgäste ist die Küche nicht gerade vorbereitet, daher fällt die Portion mal wieder ziemlich groß aus. Mit meiner Wahl habe ich heute auf alle Fälle voll ins Schwarze getroffen und kann nun bestens gestärkt in Richtung Süden abbiegen. Die 109 verläuft hier ein gutes Stück südwärts, doch dafür ist von einem Schlag auf den anderen auch der Verkehr beinahe verschwunden. Weiden säumen den Straßenrand und nun ab und an geht es an einem kleinen Dorf vorbei. Die Landwirtschaft setzt hier verstärkt auf Tierhaltung, primär Hühner und Schweine. Was mich ein wenig überrascht ist die Tatsache, dass die Tierhaltung sich in der Regel stets in sehr kleinem Rahmen bewegt. Eigentlich hätte ich mit riesengroßen Hühnerfarmen gerechnet, doch bisher sind mir nur Familienbetriebe mit ein paar hundert Tieren begegnet. Ziemlich oft werden die Hühner im Freien gehalten, von den Schweinen bekommt man bis auf das Gequieke und den Geruch nicht viel mit.
Die Temperatur ist heute aufgrund des bedeckten Himmels sehr angenehm, doch am späten Nachmittag fühlt es sich so an, als ob es noch kälter werden würde. Die Stecke führt zwar in Richtung Berge, aber eigentlich dürfte es deshalb noch nicht so kühl sein. Offenbar entwickelt man nach einigen Monaten auf der Straße eine gewisse Feinfühligkeit das Wetter betreffend. Irgendwie habe ich es im Gespür, dass ein Gewitter im Anmarsch ist. So wirklich ausmachen kann man es zwar bei dem Einheitsbrei an Dunst nicht, aber ich beschieße trotzdem möglichst rasch einen Zeltplatz zu finden. So ganz zufrieden bin ich zwar noch nich, doch ich spüre schon die ersten Tropfen. Jetzt muss alles recht schnell gehen, wenn ich nicht tropfnass ins Zelt kriechen will. Der letzte Zeltnagel ist in den steinigen Boden geklopft, da beginnt es auch schon wie aus Kübeln zu regnen. Mal wieder in letzter Sekunde ins Trockene gekommen. Solange es morgen wieder aufklart bin ich voll und ganz zufrieden. Bisher musste ich ohnehin praktisch jeden Tag das Zelt am Nachmittag zum Trocknen aufstellen, da macht es dann auch keinen Unterschied mehr, ob es vom Regen, oder vom Kondensat nass ist.

Tag 214 – 02.September

Dapuzhen – Peking: 176km; 8:15h im Sattel; 18 – 22 Grad, Regen
Warmshowers

Das Stoßgebet, das ich gestern Abend noch abgegeben hatte, wurde offenbar leider nicht erhört. Es regnete die ganze Nacht durch und auch am Morgen sah es nicht wirklich nach Besserung aus. Was tun? Am liebsten hätte ich den Tag im trockenen Zelt verbracht, doch auf der einen Seite bahnte sich der Regen bereits wieder einen Weg ins Innere und auf der anderen Seite hatte ich nicht mehr ausreichend Wasser, um einen weiteren Tag im Zelt zu bleiben. Sicherlich hätte ich im nahegelegenen Dorf Nachschub besorgen können, aber die Vorstellung, einen ganzen Tag im immer feuchter werdenden Zelt festzusitzen war irgendwie nicht sonderlich erbaulich. Es lagen gut 160km bis Peking vor mir, sollte also mit etwas Einsatz durchaus machbar sein. Also mal wieder rein in die Regenklamotten. Insgeheim hoffte ich ja, dass es im Laufe des Tages noch aufklaren würde. Nachdem ich in Datong meine Regenhandschuhe verlegt hatte griff ich auf den alten Rennradlertrick zurück und stülpte mir die Erste Hilfe Handschuhe über, um zumindest vor dem Wind geschützt zu sein. Bei Regenfahrten über mehrere Stunden ist man ohnehin innen und aussen nass, ganz egal wie man es anstellt. In der Regel schwitzt man viel mehr, als die “atmungsaktive Kleidung” abgeben kann, aber solange man sich vor dem Auskühlen schützen kann, ist das schon einmal die halbe Miete. Eingepackt von Kopf bis Fuß dauerte es heute nicht lange, bis ich im eigenen Saft schwamm. Na, das kann ja heiter werden – knapp acht Stunden Fahrzeit hatte ich bis Peking veranschlagt und das alles in völlig durchnässtem Zustand? Naja, vielleicht wird es unterwegs ja wirklich noch besser.
Abgesehen vom fast pausenlosen Regen war die Strecke traumhaft schön. Der Verkehr war praktisch gänzlich verschwunden und die Strecke führte durch eine atemberaubende Berglandschaft. Dicht bewaldete Hänge wohin das Auge blickt, doch leider war die Sicht ziemlich getrübt. Über viele Kilometer begegnete mir kein einziges Auto und ich kam auch an keinem einzigen Haus vorbei. So knapp vor Chinas Hauptstadt gibt es noch solch eine idyllische Landschaft? Kaum zu glauben, aber wahr. Es galt einige Höhenmeter zu absolvieren, bevor eine scheinbar endlose Abfahrt in Richtung Peking begann.
Zum Glück war die Temperatur heute trotz Regen erstaunlich angenehm. Immer wieder sah man vielversprechend helle Abschnitte im wolkenverhangenen Himmel, aber irgendwie war es mir heute nicht vergönnt, trocken nach Peking zu kommen. Mittags sah es kurzzeitig einmal nach Besserung aus, doch der Regen holte mich wieder ein. Im Grunde hatte ich mich schon nach den ersten Stunden damit abgefunden und versuchte nur noch zügig nach Peking zu kommen. Nach der langen Abfahrt durch die Wälder der Lingshan Berge musste ich aber immer wieder einmal eine kurze Pause einlegen, um die faszinierende Berglandschaft zu bestaunen. Ohne Regen wäre dieser Streckenabschnitt sicher noch um einiges feiner, aber auch so genoss ich das viele Grün und die so ungewohnte Ruhe.
Kurz nachdem die Provinzgrenze zu Peking überfahren war gab es die allererste Polizeikontrolle seit ich mich in China aufhalte. Anfangs wollte der Polizist noch alles mögliche von mir wissen, doch nachdem ich immer wieder nur Deutschland, Peking und Fahrrad auf Chinesisch antwortete gab er irgendwann auf und ließ mich passieren, ohne einen Blick in eine meiner Taschen geworfen zu haben.
Die Kilometermarke zum Stadtzentrum zeigte nur noch 40km an und immer noch war ich umgeben von nichts anderem als grünen Hügeln. Ich konnte es gar nicht so recht fassen, freute mich aber über jeden Kilometer mehr, den ich noch im Grünen zurücklegen konnte. Die Stadteinfahrt selbst war dafür nicht sonderlich spektakulär, ähnelte vielmehr fast jeder beliebigen Stadt die ich bisher in China besucht hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass die Distanzen nun etwas größer wurden. Es verging doch einiges an Zeit bis ich annähernd im Stadtzentrum war. Die letzten Kilometer bis in die Gegend in der Victor, mein Warmshowers – Host, lebt durfte ich wieder einmal in wolkenbruchartigem Regen zurücklegen.
Momentan habe ich noch nicht wirklich das Gefühl, schon in Peking zu sein. Viel zu ähnlich wirkt alles zu den bisherigen Städten, aber vom eigentlichen Stadtzentrum habe ich bisher ja auch noch nichts gesehen.
Nach etwa mehr als acht Stunden Regenfahrt, war ich heilfroh, endlich den See aus meinen Schuhen ausleeren zu können, die tropfnassen Klamotten in die Waschmaschine zu befördern und eine warme Dusche zu nehmen.
Nach 43 Tagen in China bin ich endlich in Peking angekommen. Für viele Radreisende ist Peking ja das Ende der langen Fahrt, für mich ist es nur eine Zwischenstation, wenn auch eine bedeutsame. Ich freue mich schon auf ein paarTage Sightseeing in der Stadt, hier sollte es ja doch einiges zu sehen geben, aber für heute habe ich erst einmal genug. Morgen ist auch noch ein Tag!