Tag 273 / 274 – 30. / 31.Oktober

St. Petersburg: 2 Ruhetage; bisher geradelt: 19.263km; 967:26h im Sattel
Hostel

St. Petersburg, die zweitgrößte Stadt Russlands, wurde erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts gegründet. Wie nicht anders zu erwarten – im Sumpfgebiet. Warum sollte es hier in direkter Meernähe auch anders sein, als auf den hunderten Kilometern nach Moskau…
Peter der Große sicherte sich hiermit den Meerzugang zur Ostsee. Die Burganlage, die er zur Verteidigung erbauen ließ wurde aber nie angegriffen, zu gut war die Grenze im Norden gesichert. Bis ins 20. Jahrhundert war St. Petersburg die Hauptstadt Russlands gewesen. Der starke Europäische Einfluss lässt sich bei einem ersten Spaziergang durch die Stadt keinesfalls verleugnen. Das Gefühl, sich in einer russichen Metropole aufzuhalten kommt eigentlich nur in den Randbezirken auf. Ansonsten erinnert die Stadt weit mehr an die Metropolen Europas, gepaart mit ein wenig Kanalflair aus Venedig. Barock, Klassizismus, Jugendstil und Gründerzeit vereinen sich im historischen Stadtzentrum von St. Petersburg. Moderne Bauten muss man schon fast mit der Lupe suchen. Angeblich untersagen die Bauvorschriften moderne Gebäude im Stadtzentrum. Ich hatte schon damit gerechnet, dass St. Petersburg ein wenig mehr europäisch geprägt sein wird, als es Moskau ist, aber dass der Einfluss gleich derart stark war hätte ich mir nicht gedacht. An Russland erinnern fast nur noch die kyrillischen Schriftzeichen. Ich frage mich schon jetzt, wie es wohl im Baltikum weitergehen wird.
Zwei Tage Auszeit in St. Petersburg und dann – zumindest gefühltermaßen – nur noch bergab in Richtung Heimat. “Bergab”, weil Richtung Süden… in Wirklichkeit gehts natürlich bergauf, aber die Vorstellung vom Bergabfahren gefällt mir im Moment ganz gut. Nachdem ich ja gestern schon recht frühzeitig in der Stadt angekommen war, konnte ich mir bereits ein erstes Bild machen. Vom strahlend blauen Himmel war an denn zwei folgenden Ruhetagen leider nichts mehr zu sehen, aber auch bei überwiegend grauem Himmel konnte St. Petersburg überzeugen.
Über Warmshowers hatte ich mich mit Natalya verabredet, die leider nur noch für ein paar Stunden in der Stadt war und anschließend zu ihrer Großmutter aufs Land unterwegs war. Natalya hatte diesen Sommer mit einer Freundin für fünf Wochen England per Fahrrad (Klapprad) erkundet (http://2girls2bikes.com). Zu plaudern gabs demnach entsprechend viel. Nebenbei besichtigten wir dann noch die Peter und Paul Festung und ließen uns die raren Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell man beim Erzählen übers Radreisen auf gleicher Wellenlänge landet. Die Zeit verfliegt wie im Flug und der Gesprächsstoff schient nicht auszugehen. Nachdem Natalya selbst in Russland noch nicht viel unterwegs war, wollte sie natürlich alles mögliche übers Reisen in Russland wissen. Selbst in Russland scheinen sich bestimmte Vorurteile gegenüber speziellen Regionen festgesetzt zu haben und natürlich hält sich das Gerücht hartnäckig, dass Radfahren auf den russischen Landstraßen lebensgefährlich sei. Dass ich ohne Schramme von Moskau nach St. Petersburg gekommen bin scheint also einem Wunder zu gleichen. Meiner Meinung nach ist eine Strecke immer nur so gefährlich, wie man glaubt, dass sie ist. Wenn man nun aber schon im Vorfeld davon ausgeht, dass die Fahrt lebensgefährlich ist, wird man sich wohl nie vom Gegenteil überzeugen können…
Natalya engagiert sich in St. Petersburg intensiv dafür, dass den Fahrradfahrern mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Obwohl die Stadt eigentlich vollkommen flach ist und über relativ breite Straßen verfügt, sucht man Fahrradstreifen vergebens. Nur ein paar Einheimische sind auf zwei Rädern unterwegs und solange sich in der Verkehrspolitik nicht viel ändert, wird das wohl auch weiterhin so bleiben.
Positiv im Vergleich zu Moskau fällt auf, dass hier den Fußgängern definitiv mehr Bedeutung zugemessen wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich das auch in Zukunft auf die Radfahrer übertragen lässt. Protestveranstaltungen wie beispielsweise “Critical Mass” sind aufgrund der komplexen Rechtsvorschriften nur sehr beschränkt durchführbar, doch offenbar gibt es langsam Bewegung in der Radfahrgemeinde.
Nachdem ich Natalya mit dem Rad getroffen hatte, wollte ich den angebrochenen Nachmittag auch nicht untätig verstreichen lassen und machte mich noch auf, einen Blick auf das Meer zu werfen. In St. Petersburg ist man an vielen Stellen von Wasser umgeben, doch im Unterschied zu Venedig fließt hier eben ein Fluss mit vielen Seitenkanälen ins Meer… Natalya hatte mir freundlicherweise einen Tip gegeben, wo man besonders gut aufs Meer schauen könnte und so radelte ich also der tief stehenden Sonne entgegen, vorbei am Hafen direkt auf eine Insel die spitz zulaufend schlussendlich im Meer endete. Ruhig und spiegelglatt lag das Meer vor mir und die Sonne begann schon langsam darin zu verschwinden. Für einen derartigen Anblick hatte sich der kurze Ausflug definitiv ausgezahlt, doch kaum war die Sonne am Horizont verschwunden begann es auch schon dunkel zu werden. Der Winter naht und Dunkelheit zieht schnell ins Land.
Bei mir machte sich rasch eine gewisse Erschöpfung breit die ich primär auf die kraftzehrenden vergangenen Tage zurückführte und ich sehnte mich nur noch nach ein paar ruhigen Stunden im Hostel. Noch schnell bei meinem finnischen Lieblingssupermarkt eingekauft und schon lässt sich auch in der Küche des Hostels ein köstliches Abendmal zubereiten. Herrlich, mal wieder eine richtige Küche verwenden zu können…

Ach der zweite Ruhetag war von grauem Himmel dominiert. Auf den breiten Gehsteigen schlenderte ich gemütlich durch den kontinentalen Teil von St. Petersburg, bevor es über eine der vielen Brücken ging. Immer wieder kommt mir der Vergleich mit Venedig in den Kopf, wobei schon alleine der Maßstab die beiden Städte eigentlich klar voneinander unterscheidet. In Venedig läuft der gesamte Verkehr übers Wasser, hier läuft alles über die Straße, bzw. mit der Metro. Aufgrund des schlechten Untergrunds musste die Metro verhältnismäßig tief unter die Erde verlegt werden. Wer glaubt, dass die Rolltreppen der Moskauer Metro lang sind, der sollte einmal in St. Petersburg mit der Rolltreppe zur Metro fahren. Fast zwei Minuten dauert die Fahrt hinab in die Tiefe. Mitte der 1950er Jahre wurde die Metro in St. Petersburg eröffnet. Die Stationen sind ähnlich wie in Moskau individuell gestaltet, auch wenn man generell sagen kann, dass die Gestaltung weit zurückhaltender ausfällt. War in der Moskauer Metro der Krieg vielerorts dominierendes Gestaltungsmerkmal, so liegt der Schwerpunkt in der Gestaltung hier mehr bei Szenen aus dem Alltags- / Arbeitsleben. Auch die Materialwahl ist etwas reduzierter als in Moskau. Aber selbstverständlich gibt es keine Regel ohne eine Ausnahme… Die Station Avtovo besticht zum Beispiel mit ausgefallenem Dekor. Transparente Glasrelieffe schmücken gut die Hälfte der Säulen der Station. Am Kopfende befindet sich ein farbenprächtiges Mosaik, das an das siegreiche Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert.
Die Metrozüge ähneln sehr jenen der Moskauer Metro. Auch der Zugintervall ist sehr ähnlich. Dafür gibt es in St. Petersburg kein Internet in der Metro…
Während meiner Zeit in Samarkand (Uzbekistan) war ich mit ein paar Motorradfahrern aus Russland / Belarus zusammengetroffen. Einer davon – Anton – hatte mich bereits in Samarkand dazu eingeladen, ihn bei Gelegenheit einmal in St. Petersburg zu besuchen. Nun also eine perfekte Gelegenheit, alte Bekanntschaften wieder aufzufrischen. Anton, der ebenfalls als Architekt arbeitet, hatte mich zu sich ins Büro eingeladen. Für mich völlig überraschend war die Tatsache, dass fast alle seine Bürokollegen über meine Tour informiert waren. Anton war mir offenbar recht aufmerksam gefolgt und hatte die Bilder mit seinen Kollegen geteilt. Irgendwie schön zu sehen, dass der Blog auch ohne Sprachverständnis gut funktioniert. Natürlich gab es viel Fragen zu beantworten. Nach und nach sank auch die Hemmschwelle seiner Kollegen, das ihrer Ansicht nach unperfekte Englisch auszupacken und so kamen wir abends gemeinsam bei ein paar Drinks recht ausgiebig ins Gespräch. Englisch als flüssig gesprochene Sprache ist auch in St. Petersburg nicht unbedingt weit verbreitet. Viele Russen haben aber auch einfach nur Hemmungen, ihr Englisch auszupacken. Gelegenheiten zum Englischsprechen gibt es einfach nicht allzuviele, aber nachdem sich mein Ohr nun schon langsam an die russische Sprache gewöhnt hat, klappt es mit dem Verständnis der russischen Passagen nun auch schon verhältnismäßig gut. Fast schon ein bisschen schade, dass ich morgen schon wieder aus Russland ausreise…
Aber um ehrlich zu sein ist die Vorfreude auf die vor mir liegenden Länder weit größer. Noch etwa sechs Wochen auf der Straße liegen vor mir und sechs Länder werden in dieser Zeit durchfahren werden. Wenn ich daran zurückdenke, dass ich mich alleine in China zwei Monate aufgehalten habe, werden die sechs Wochen fast wie im Flug vergehen. Ich hoffe mal, dass es mir nicht zu schnell geht…