Tag 208 – 27.August
Pingyao – 1 Ruhetag; bisher geradelt: 16.044km; 817:40h im Sattel
Hostel
Pingyao gehört noch zu den wenige Städten in China, in denen der Flair des alten Kaiserreiches noch zu spüren ist. Mit etwa 40000 Einwohnern gehört sie sicherlich nicht zu den größten Städten des Landes, aber das ist auch ganz gut so. Historisch gesehen spielt Pingyao schon sehr lange eine bedeutende Rolle. Eine 2700 Jahre alte Stadtgeschichte kann nicht jede Stadt vorzuweisen…
Schon beim Betreten der Stadt durch eines der Stadttore hat man das Gefühl ein kleines Fenster in eine vergangene Zeit zu öffnen. Im Grunde sieht die Stadt noch so aus, wie die chinesischen Städte vor 300 Jahren. Bedeutung erlangte Pingyao durch das Bankwesen, da hier die erste Bank Chinas gegründet wurde. Pingyao wurde das Zentrum des Bankwesens in China. Die ersten Geldscheine und Schecks stammen aus Pingyao, von hier aus wurde im ganzen Land Handel betrieben. Doch jedem Aufstieg folgt auch irgendwann wieder ein Niedergang. Die Geschäfte gingen zurück und die Stadt blieb in ihrem Entwicklungsstand stecken. Für die heutigen Besucher ein Glücksfall, denn nun kann man noch einen Blick auf das Leben und die Gebäude aus der Zeit der Ming- und Qing-Dynastie werfen.
Natürlich ist nicht alles so geblieben wie es war. In die meisten Gebäude sind nun Hotels, Restaurants, Bars und sonstige Touristenläden eingezogen, doch die Grundstrukturen sind noch erhalten geblieben. Man schlendert vorbei an den dunkeln Ziegelgebäuden die größtenteils mit roten Lampions geschmückt sind. Autoverkehr gibt es in der Altstadt keinen. Die Stadt wird von Elektrofahrrädern und vereinzelten klassischen Rädern in Besitz genommen.
Als ich gestern Nachmittag in Pingyao angekommen bin, konnte ich schon erahnen, wieviele Besuchergruppen täglich in die Stadt pilgern. Daher versuchte ich in den frühen Morgenstunden einen Blick auf die noch schlafende Stadt zu werfen. Die Fenster aller Gebäude entlang der Hauptstraßen sind über Nacht mit Holztafeln verhangen, noch deutet nichts darauf hin, dass von hier aus in wenigen Stunden Krimskrams aller Art an chinesische Touristen verkauft werden wird. Die Orientierung in der Stadt fällt angenehm leicht. Es gibt die vier Haupttore (Nord, Ost, Süd, West) von denen aus die Hauptstraßen wegführen. Interessanterweise liegen die Stadttore nicht direkt gegenüber sondern sind leicht zueinander versetzt. Etwas mehr als sechs Kilometer misst die Stadtmauer, die den Altstadtkern umgibt. Auch hier kann man noch einen Blick auf die historische Verteidigungsanlage werfen. Innerhalb der Stadtmauer gab es im Bereich der Stadttore eine Art Zwischenstadt. Für den Fall, dass Angreifer die Tore durchbrechen landen sie in eben dieser Zwischenstadt, können womöglich direkt abgewehrt werden, oder sitzen mehr oder weniger in der Falle…
Frühmorgens tut sich noch nicht viel innerhalb der Stadtmauer, dafür tummeln sich die Bewohner vor den Stadttoren. Hier wird ganz eifrig Morgensport betrieben. Zum ersten Mal sehe ich auch Leute Kalligraphie üben. Der dicke Pinsel ist in Wirklichkeit ein spitz zugeschnittener Schwamm, der nicht mit Tinte, sondern mit Wasser getränkt ist. Auf den glatten Steinplatten werden teilweise gekonnt schwungvoll, oder auch noch recht zögerlich einzelne chinesische Schriftzeichen aufs Papier / den Stein gebracht. Winzige Details in der Pinselführung sind offenbar sehr bedeutsam und werden immer und immer wieder einstudiert.
Immer wieder genieße ich diese Momente am Morgen, wenn die Einheimischen ganz unter sich sind, noch keiner seiner Arbeit nachgeht und alle für einen kurzen Moment als Individuum in der Masse untergehen.
Nach ein paar Stunden Stadtspaziergang war mein Kopf derart voll, dass ich mich nur noch auf ein paar ruhige Stunden im schattigen Innenhof des Hostels freute. Den ganzen Nachmittag über quälten mich latente Kopfschmerzen, den wahren Grund dafür konnte ich am Abend hautnah miterleben.
Ich machte mich noch einmal auf, um ein wenig von der Abendstimmung der Stadt einzufangen, hatte gerade das Nordtor hinter mir gelassen, da begann sich der Himmel zu verdunkeln. Die Sonne stand blutrot am Horizont und die ersten Tropfen fielen vom Himmel. Schaffe ich es noch bis zu einem Lokal, wo ich im Trockenen das herannahende Gewitter aussitzen kann? Nun ja, in Wirklichkeit schaffte ich es gerade noch zurück zum Stadttor, dann öffnete der Himmel seine Pforten. Überall hektisches Treiben. Die Händler versuchten so rasch wie möglich ihre Ware in Sicherheit zu bringen und interessanterweise hatte fast Jeder auf dem Elektrofahrrad plötzlich einen Regenponcho übergezogen.
Im engen Bogen des Stadttores kam es natürlich umgehend zu einem großen Stau. Die Fußgänger und Radfahrer wollten nicht mehr weiter, die Elektromobile und Kleintransporter konnten nicht mehr weiter. Nach kurzem peitschte der Wind den immer stärker werdenden Regen durchs offene Stadttor. Hagelkörner mischten sich unter den dichten Regen. Blitze zuckten direkt über der Stadt und der Donner war nahezu zeitgleich zu vernehmen. Jeder versuchte irgendwo eine geschützte Position zu finden, um Wind und Regen zu entkommen, doch nachdem der Wind irgendwann von jeder Richtung kam, war jeder Versuch vergebens. Auch ich hatte schon aufgegeben und beschlossen trotz intensivstem Regen und stürmischen Verhältnissen ins Hotel zurückzukehren. Womit ich nicht gerechnet hatte war die Tatsache, dass die gepflasterten Gassen den Regen offenbar nicht aufnehmen konnten. Eine braune Brühe schoss mir entgegen. Gut 20cm tief war der “Stadtfluss” und ich war froh, dass es bereits dunkel war und man nicht mehr so genau sehen konnte, was so alles dahergeschwommen kam. Aber ja, das ist ja die schon oft angesprochene natürliche Müllentsorgung. Schon alleine vom Geruch her war mir klar, dass es ratsam sein würde, die Klamotten und die Schuhe einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.
Die Ladenbesitzer versuchten panisch das Wasser aus ihren Geschäften draussen zu halten. Jetzt machen die hohen Eingangsschwellen auch plötzlich Sinn…
So in etwa stelle ich mir den Weltuntergang vor. Vielleicht noch ein Erdbeben oder ein Feuer, aber der Rest kommt ganz gut hin.
Zurück im Hostel gab es erst mal für ein paar Stunden keinen Strom. Duschen und Wäschewaschen mit der Stirnlampe – nur gut, dass man als Radreisender alles dabei hat. Insgeheim war ich aber froh, dass es heute dieses gewaltige Gewitter gegeben hat, weil jetzt die nächsten Tage mit nichts derartigem mehr zu rechnen ist. Der Herbst kündigt sich langsam an und die Wetterbeständigkeit sinkt so langsam. Wenn es geht möchte ich aber noch so lange als möglich trocken weiterradeln.
Bis Peking ist es jetzt wirklich nicht mehr weit. Gut 700km trennen mich noch von der Hauptstadt dieses gewaltig großen Landes. Der letzte Meilenstein bevor es an Meer geht! Von der geistigen und körperlichen Verfassung fühle ich mich ganz gut gerüstet für den letzten großen Satz, nur der Sitzmuskel meldet sich jetzt immer öfter zu Wort. Die vielen Stunden im Sattel machen sich nun doch bemerkbar, aber in gut zwei Wochen gibts ohnehin eine längere Erholungspause. Bis dahin wird aber noch fleissig weitergestrampelt. Knapp 1500km sind es noch bis ans Meer…
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