Tag 255 – 257 | 09. – 14.Oktober
Irkutsk: 3 Ruhetage; Zugkilometer bisher: 4124km Hostel Nach drei Tagen im Zug freut man sich erst einmal über eine gemütliche Dusche. In unserer Unterkunft wurden wir sehr herzlich willkommen geheissen. Galina, die Besitzerin des kleinen Hostels spricht sehr gut Deutsch und so kommen wir schnell ins Gespräch. Zum Frühstück unzählige Plinis / Pfannkuchen und dann aber los in die Stadt. Die Stadtgeschichte von Irkutsk ist nicht sonderlich alt, erst vor 350 Jahren wurde die Stadt gegründet. Generell ist die moderne Siedlungsgeschichte in Sibirien noch verhältnismäßig jung. Die Holzhäuser, die man hier in Irkutsk findet, stehen stellvertretend für Russische Holzarchitektur, nachdem das handwerkliche Wissen und auch die Handwerkers selbst allesamt aus Westrussland stammten. Über die Stadt verteilt trifft man noch auf eine Vielzahl der historischen Massivholzbauten mit teilweise recht aufwändigen Verzierungen in der Fassade. Der Großteil der Holzhäuser befindet sich allerdings in einem recht desolaten Zustand. Oftmals wurden die Häuser ohne ausreichende Fundamentierung gebaut und so begannen viele Gebäude sich mit der Zeit abzusenken. Man trifft aber auch auf einen speziellen Bautyp, der aufgrund eines Erlasses des Zaren entstanden ist. Demnach waren die Gebäude höhenlimitiert, woraufhin einig Baumeister die Häuser ein halbes Geschoß unter Erdniveau errichteten. Man findet auch eine beträchtliche Zahl von Brandruinen in der Stadt. Auf einigen abgebrannten Häusern wachsen bereits kleine Büsche, bei anderen liegt der Brand noch nicht weit zurück. Beeindruckend finde ich die Vielfalt an unterschiedlichen Holzhäusern, die man hier noch findet. Auffallend aber auch die vielen Wasserpumpen am Straßenrand. Viele der Holzhäuser verfügen weder über einen Anschluss an die Kanalisation, noch über fliesend Wasser. Bei traumhaftem Sonnenschein flanieren wir durch die Stadt. Die Temperaturen am ersten Tag in Irkutsk liegen noch bei knapp 10 Grad, doch es kündigt sich schon der Winter an. Viele Kleinigkeiten erinnern mich an die zurückliegende Zeit in Zentralasien. Wir stolpern zufällig in ein Straßenlokal, dessen Speisenangebot dem Zentralasiens entspricht. Schaschlik, Salat, Brot und Tee – lange nicht mehr gegessen, aber superlecker. Das Stadtzentrum von Irkutsk kann man sehr leicht zu Fuß erkunden. Den ganzen Tag über lassen wir uns durch die Stadt treiben, beschließen dann aber am Nachmittag unser Zugticket nach Moskau zu kaufen. Am Bahnhof spricht erwartungsgemäß niemand Englisch, doch zum Glück hatten wir uns bereits im Vorfeld ein paar Züge herausgesucht. Es sind nicht mehr sonderlich viele Tickets verfügbar und wir entschließen uns, einen Tag länger in Irkutsk zu bleiben, um dafür einen Liegeplatz im Abteil zu bekommen. Offenbar verfügt der Zug aber über kein Gepäckabteil – bin gespannt, ob das Rad problemlos mitgenommen werden kann. Wie auch schon in Wladiwostok sind die Ticketpreise am Schalter um 20% günstiger, als wenn man das Ticket online erwerben würde. Nun geht es zwar einen Tag später weiter, dafür kommen wir aber am selben Tag an, wie geplant. Unser jetziger Zug kommt aus der Mongolei und benötigt für die Strecke Irkutsk – Moskau gut 10 Stunden weniger. Auch der zweite Tag in Irkutsk beginnt mit einem herzhaften Plini – Frühstück. In Irkutsk geht die Sonne momentan erst gegen 8:30 Uhr auf, was den Schlafrhythmus ein wenig durcheinander bringt. Der strahlendblaue Himmel verspricht für heute aber einen traumhaften Tag und so beschließen wir, trotz fortgeschrittener Stunde einen Ausflug ins Freilichtmuseum Talzy zu unternehmen. Vom Vormplatz des Zentralmarktes aus verkehren regelmäßig Marschrutkas – Minibusse – zum Baikalsee. Nach nur wenigen Minuten Wartezeit ist die Marschrutka auch schon voll und es geht los. In einem Affenzahn brausen wir in Richtung Baikalsee. Die Straße verläuft zwar schnurgerade, doch es geht wellenartig rauf und runter. Stellenweise fühlt es sich so an, als ob ein Flugzeug in ein Luftloch fallen würde, doch dafür sind wir schon nach knapp einer halben Stunde am Ziel angelangt. Das Freiluftmuseum Talzy wurde in den 1980er Jahren eröffnet und besteht aus einer Vielzahl von Holzbauten aus der Region. Ein Großteil wurde beispielsweise aufgrund der Errichtung eines Staudammes abgebaut und in Talzy originalgetreu wieder aufgebaut. Man bekommt ein bisschen eine Vorstellung von traditioneller Architektur in Sibirien, auch wenn das Ensemble mehr an eine Westernstadt erinnert. Aber vielleicht unterscheiden sich die Siedlungen zu Zeiten der Besiedelung Amerikas gar nicht so sehr von den Sibirischen Bauten. In beiden Fällen war Holz der dominierende Baustil und das Wissen wurde auch aus der “alten Heimat” transportiert. Spontan beschließen wir noch, einen Ausflug an den Baikalsee zu machen. Bis nach Listwjanka sind es nur 30km und schon nach nur ein paar Minuten hält eine Marschrutka und wir brausen zum See. Einen besseren Tag hätte man sich wohl nicht aussuchen können. Strahlend blauer Himmel, eine noch kräftige Sonne, kein Wind und fast keine Leute… man kommt richtig in Urlaubsstimmung. Auf der anderen Uferseite die schneebedeckten Berge des Chamar-Dahan-Gebirges. Das kristallklare Wasser lädt eigentlich zum Baden ein, doch die Wassertemperatur spricht klar dagegen. An der Uferstraße wird fleissig Räucherfisch verkauft. Aus den Hauseinfahrten steigt dichter Rauch aus den Räucherkästen auf, die Fische hängen aufgefädelt an Schnüren in der Sonne und warten auf hungrige Besucher wie mich. Ein paar Kilometer kann man recht gemütlich am Seeufer entlangspazieren. Die Stimmung am See ist atemberaubend. Sonne, Wasser, Schnee… Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sitzen wir nur am Ufer und genießen den Ausblick über des See. Schon erstaunlich, wenn man sich vorstellt, dass der Baikalsee 1/5 des Süßwasservorrates der gesamten Welt beinhaltet. Im Winter friert der See zu und kann auch mit Autos befahren werden. Eine Besonderheit dieser Region ist wohl die Tatsache, dass der See in der Regel Schneefrei ist und man so problemlos sich am meterdicken Eis bewegen kann. Die Winter hier in Sibirien sind zwar recht kalt, dafür scheint aber fast immer die Sonne. Nach Aussage von Galina hat Irkutsk beispielsweise 250 Sonnentage im Jahr. Einen davon dürfen wir zumindest heute in vollen Zügen genießen. Zurück in Listwjanka gibts frischen Räucherfisch, eine Portion Plov und frisch abgefülltes Bier, das wir uns kurz vor Sonnenuntergang am Seeufer schmecken lassen. Die untergehende Sonne taucht den See und das angrenzende Gebirge in ein sanftes, schon fast lilafarbenes Licht. Im selben Moment in dem die Sonne hinter den Hügeln verschwindet, wird es auch wieder empfindlich kalt. Heute scheint unser Glückstag zu sein, denn nach nur 10 Minuten taucht auch schon ein Marschrutka auf und nicht einmal eine Stunde später sind wir schon zurück in Irkutsk. Lake Baikal! The Lake of beauty, the lake of silence, the lake of greatness. Lake Baikal! The world´s deepest lake, Russia´s deepest pride. Lake Baikal! All fulfilling within, all inspiring without. Baikal! With tears of joy We dedicate you to the golden goal of a oneness-world. With tears of hope We pray that the sea of peace you eternally are Will sleeplessly enter into every human heart. Baikal! Outwardly you bless us with abundance In measureless measure. Inwardly you are our Inner Pilot´s Own choicest treasure. (Übersetzung der Baikalhymne – man ist durchaus stolz auf diesen großen See…) Wie angekündigt hatte es in unserer zweiten Nacht zu schneien begonnen. Am Morgen war die Stadt in ein weißes Kleid gehüllt. Mir geht das alles im Moment noch ein wenig zu schnell. Schnee brauche ich jetzt wirklich noch nicht. Ich hoffe nur, dass mir das Klima in Moskau noch ein paar warme Tage schenkt, obwohl ich dahingehend immer weniger zuversichtlich werde. Nun ja, der Sommer ist definitiv vorüber und der Winter zeigt schon seine ersten Vorzeichen. Der erste Schneemann des Jahres wird gebaut und trotz ungemütlichem Wetter starten wir erneut einen Spaziergang durch die Stadt. Dieses Mal gehts hinaus in die Stadtränder, um die Wohnquartiere zu besuchen. Ein Großteil der Plattenbauten im Bezirk Karl Marx Stadt ist in sehr desolatem Zustand, doch man kann noch gut erkennen, dass die Neubauten hier mit großer Ambition errichtet wurden. Man trifft auf unterschiedlichste Bauformen und spürt den Gestaltungswillen für die Freiräume, doch leider nagt der Zahn der Zeit am Viertel. Für dringend erforderliche Erhaltungsmaßnahmen ist kein Geld vorhanden und so verkommen die Symbole einer glorreichen Zukunft nach und nach. Am Stadtrand von Irkutsk wird die Angara, der Ausfluss des Baikalsees in einem Stausee aufgefangen. Eisiger Wind treibt uns die Schneeflocken ins Gesicht und so suchen wir uns vom Ufer des Stausees aus wieder den Weg zurück zur gut beheizten Straßenbahn. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind in Irkutsk erstaunlich günstig. Für nur 12 Rubel, also etwa 23 Cent ist man dabei. Auch die Preise für die Marschrutkas sind sehr niedrig, dementsprechend groß ist auch der Andrang. Zu dieser Jahreszeit trifft man in Irkutsk auf erstaunlich wenige westliche Touristen. Schwer einzuschätzen, ob im Sommer wirklich mehr los ist, oder ob die Region generell nicht zu den Touristenmagneten zählt. Für Naturliebhaber zählt die Baikalregion aber sicher zu den Top Destinationen. Im Moment befindet sich alles gerade im Umbruch. Der Sommer ist vorbei, der Winter ist noch nicht wirklich da… Trotzdem eine fantastische Zeit, die Region zu besuchen. Von Irkutsk und der Baikalregion hatte ich im Vorfeld nicht sonderlich viel gewusst. Dementsprechend groß ist die Überraschung ob der faszinierenden Umgebung und der sympatischen Stadt. Wer weiß, vielleicht verschlägt es mich ja wieder einmal in diese Gegend… Morgen gehts also wieder weiter. Die letzte Etappe in Richtung Moskau steht an. Ein Blick auf die Karte verrät, dass es noch ein weiter Weg ist. Russland ist wirklich ein unglaublich großes Land. Wenn alles nach Plan verläuft werden wir am 18.Oktober in Moskau ankommen, dann kann ich endlich mein Rad wieder zusammenbauen und ein paar Tage später meine Heimreise antreten. Für Silke sind es nur zwei Stunden Flug, für mich werden es fast zwei Monate werden… Aber ich freue mich schon sehr darauf.
2 Responses to Tag 255 – 257: Mittelerde
Narrisch!
Für diese Radreise, Hut ab! Die Zugfahrt ist sicher auch nicht ohne, aber kann man sich doch eher vorstellen.
Da wirst Du bis zu Lebensende was zum Erzählen haben!
Moritz
Heut hab ich deiner Oma die Fotos gezeigt und sie ist schwer beeindruckt. Kannte sie doch Sibierien bisher nur aus Kriegserzählungen ihres Onkels als sehr kaltes Land.
Bilder hatte sie noch keine gesehen. Unvorstellbar, dass nun ihr Enkel in diesem Land unterwegs ist und von der Schönheit der Landschaft schwärmt.
Liebe Grüße
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