Tag 28

Bolu – Cerkes: 122km; 5:48h im Sattel; 6-8 Grad, bewölkt / heiter
Hotel

Heute Früh etwas mühsam aus den Federn gekommen… ist vielleicht die Höhenluft. Die Höhenmeter spürt man auf alle Fälle in den Beinen. Für heute ist aber noch etwas mehr angesagt. Seit ich in der Türkei bin habe ich aufgehört, mir groß Gedanken über das Höhenprofil der Strecke zu machen. Ich lass mich einfach überraschen. Drüber über den Hügel muss man ja so oder so.
Als wir heute morgen Bolu verließen, gab die Wolkendecke die ersten Blicke auf die umliegenden Berge frei. Der Ort ist im Sommer ein sehr beliebter Anlaufpunkt für Naturliebhaber jeglicher Form. Jetzt im Winter ist aber auch nicht viel los. Der Teil der Stadt in dem wir unser Hotel gefunden hatten schein noch sehr jung zu sein. In der Fußgängerzone scheint kein einziges Haus älter als 30 Jahre zu sein. Auf unseren Offline-Karten war dieser Teil der Stadt beispielsweise gar nicht verzeichnet.
Bei mäßigem Verkehr spulten wir die ersten Kilometer des Tages ab. Ich nutzte die Gelegenheit und versuchte mein Glück mit dem Türkisch-Lernkurs erneut. Nach etwa einer Stunde brummte dann aber der Schädel und ich schien jedes Wort durcheinander zu bringen. Also wieder Pause.
Als Mittagsdestination hatten wir uns den Ort Gerede ins Auge gefasst. Von hier führt die Autobahn nach Ankara. Wir rechneten mit einem deutlich geringeren Verkehrsaufkommen auf der D 100 hinter Gerede.
Pünktlich zum Mittagsgebet (Freitag Mittag-> wichtigster Tag der Woche) erreichten wir den Ort. Das Lokal unseres Vertrauens war zu diesem Zeitpunkt praktisch leer. Nach gut einer halben Stunde gab es aber keinen einzigen freien Sitzplatz mehr. Mal wieder Glück gehabt…
Die Mittagspause fiel heute etwas länger aus, da ich mich ein wenig aufwärmen musste. Temperaturen um 7 Grad und ziemlich schweißtreibende Anstiege ließen den Körper ziemlich auskühlen. Gottseidank gab es einen Platz neben der Heizung.
Wie erwartet ließ der Verkehr hinter Gerede deutlich nach. Die Landschaft wandelte sich auch deutlich. Jeder überwundene Anstieg öffnete den Blick auf eine traumhaft schöne Hügellandschaft. Nicht weit entfernt leuchteten die schneebedeckten Berge. Der Baumbewuchs wurde immer weniger. Eine steppenartige Landschaft breitete sich vor uns aus. Und immer wieder rauf auf den nächsten Hügel, und dann wieder runter. Und wieder rauf, und wieder runter… Über 1400 Höhenmeter kamen auf diese Weise zustande. Da war es angebracht, die Kräfte richtig einzuteilen. Ich ließ daher Martin in den flachen Etappen meist vorausfahren. Die Rolleigenschaften und das deutlich höhere Gewicht meines Rades machen sich im Flachen dann doch bemerkbar. Das Angenehme ist allerdings, dass man sich auf der Strecke nicht verlieren kann. Somit kann jeder sein Tempo fahren und das Tagesziel wird dennoch gemeinsam erreicht.
Gegen halb Fünf erreichten wir unser Etappenziel. Wir gönnten uns ein Zimmer im vermutlich einzigen Hotel des Ortes. Auf unsere praktisch nicht existenten Sprachkenntnisse wird nicht groß Rücksicht genommen. Sobald ich erklärt habe, was es mit den Rädern auf sich hat, werden alle möglichen Radschläge ausgepackt. Vor Russland haben hier offensichtlich noch viele Respekt. Das ist jetzt schon des Öfteren vorgekommen, dass ich vor Schießereien / Panzer in Russland gewarnt werde. Na ja… da mach ich mir jetzt erst mal keine großen Sorgen darüber. Interessant ist aber, wie leicht man ins Gespräch kommt, sobald die geplante Route erläutert wird. Und dann wird im Anschluss meisten über Fußball geredet.
Im benachbarten Supermarkt (bei uns würde man eher Kramerladen dazu sagen) wurden wir gleich mal auf einen Tee eingeladen, bevor uns stolz die Wetttabelle zu den Fußballspielen sämtlicher Ligen gezeigt wurde. Bisher hatte Martin immer Probleme, sich als Österreicher vorzustellen. Austria und Australia ist auch hier nur sehr schwer zu unterscheiden. Da hilft es auch nicht zu erklären, dass Österreich neben Deutschland liegt. Manchmal muss er sich einfach damit abfinden, dass es bei ihm Kängurus gibt. Geht es aber um Fußball, kann man mit ein paar Clubs sehr leicht das Heimatland beschreiben. Salzburg, oder Wien (Red Bull / Rapid) finden sich auf der Tabelle und so ist alles klar.
Da ich ja nicht sonderlich viel von Fußball verstehe, muss ich meist passen, wenn es um einzelne Spieler der deutschen Bundesliga geht.
Als Deutscher hat man es da bei der Vorstellungsrunde schon um einiges leichter. Sehr viele Türken haben Verwandte in Deutschland, die meisten, von denen wir bisher gehört haben in Stuttgart. Ausserdem muss man zur Ehrenrettung der Österreicher anmerken, dass “Deutschland” in Türkisch klar verständlich ist, wobei “Österreich” und “Australien” auch hier ähnlich klingen (Avusturya / Avustralya).

Tag 29 – 01.März

Cerkes – Tosya: 114km; 5:09h im Sattel; 8-14 Grad, wolkig / heiter
Hotel

Erster März… ein Monat ist vergangen, seit ich schweren Herzens, aber mit großen Erwartungen Wien verlassen habe. Knapp 2400km liegen hinter mir, die Erwartungen an die Reise wurden bisher voll erfüllt bzw. teilweise schon übertroffen. So viele unvergessliche Momente durfte ich bisher erleben. Die Vorfreude auf die kommenden Monate ist groß. Die Türkei zeigt sich mir von einer sehr offenherzigen Seite. Überall werde ich freundlich empfangen, mit sehr großem Interesse wird mein Vorhaben diskutiert. Ein paar wenige Ortsangaben genügen und unter den Anwesenden entsteht eine rege Debatte, der ich meist leider nicht wirklich folgen kann. Sehr oft wünsche ich mir über bessere Sprachkenntnisse zu verfügen, dennoch bin ich immer wieder überrascht, wie einfach auch ohne gemeinsame Sprache eine Kommunikation entstehen kann. Überwältigend ist die Freude, die mir entgegenkommt, wenn ich durch die Dörfer radle. Seit ich Istanbul verlassen habe, fällt mir auf, dass die Leute ganz anders auf Fremde reagieren. Mag sein, dass es damit zusammenhängt, dass die Leute hier weit weniger mobil sind und im Gegenzug viel interessierter an Fremden sind. Jeder Tag ist ein Geschenk und steckt voller Überraschungen.
Heute schienen wir die Grenze zur ländlichen Türkei überschritten haben. Die Dörfer wurden immer kleiner und die Abstände zwischen den Ansiedlungen immer größer. Meist bestehen die Dörfer nur noch aus etwa 50 Häusern. Viel Landschaft liegt dazwischen. Selbstbewusst wehen von Weitem sichtbar türkische Fahnen auf den Hügeln hinter den Dörfern. Nur noch wenige Autos teilen sich mit uns die zuvor so stark befahrene D 100. Beinahe schon jeder zweite LKW grüßt uns freundlich im Vorbeifahren.
Zu unserer Linken stets die schneebedeckten Berge, ein beeindruckendes Bild. Immer wieder muss ich kurz anhalten um das Panorama zu genießen. Auf knapp über 1000m Seehöhe radeln wir gemütlich weiter in Richtung Osten.
Schrittweise geht die zuvor fast steppenartige Landschaft in eine dicht bewaldete Hügellandschaft über. Die Hügel werden wieder etwas schroffer, farbiges Gestein tritt zum Vorschein. Grün, rot, violett, gelb, weiß, braun spitzt es zwischen den Bäumen hervor.
Die Straße führt entlang eines kleinen Flusses, in dessen Nähe die Bauern beginnen, die Felder vorzubereiten. In den Obstgärten ist der Baumschnitt im vollen Gange. Zweige liegen zur Veredelung bereit… es wird Frühling.
Wenige Kilometer vor unserem Etappenziel dann die ersten Anzeichen von Industrie, die auf der bisherigen Strecke nur selten zu finden war. Über viele hundert Meter stehen rohe Ziegel zum Trocknen auf Paletten. Interessant die grüne Färbung des Rohmaterials. Im gebrannten Zustand sind sie dann aber auch rot.
Einige Holzverarbeitende Betriebe mischen sich zwischen die Ziegeleien. Ein wohliger Geruch von frisch geschnittenem Holz liegt in der Luft.
Nur noch ein letzter langer Anstieg trennt uns von unserem Tagesziel. Das Nachmittagsgebet ist gerade in vollem Gang. Die Rufe aus drei verschiedenen Moscheen überschlagen sich zwischen den Fabrikhallen.
Die Wasserflasche bis auf den letzten Tropfen geleert erreiche ich schließlich das Ortsschild von Tosya. Der Weg ins Zentrum führt dann aber noch einmal über einen 10% Anstieg. Also nochmal die letzten Reserven mobilisieren und mit dem Rad auf den Hügel strampeln. Vor uns liegt ein malerisch in einen Bergrücken eingebettetes Städtchen. Vereinzelt finden sich noch sehr alte traditionelle Häuser. Handgeschlagene Balken, lehmverputzte Wände, filigrane Holzverzierungen… Angeblich sollen im Osten der Türkei diese traditionellen Häuser noch öfter zu finden sein. Ich bin gespannt und halte die Augen offen.

Tag 30 – 02.März

Tosya – Gümüshakiköy: 122km; 5:49h im Sattel; 14-19 Grad, sonnig / bewölkt
Hotel

Prächtig erholt gings auf in die nächste Runde. Strahlender Sonnenschein und sehr angenehme Temperaturen gestalteten den Start in den Tag sehr angenehm. Gleich hinter dem ersten Hügel tat sich erneut eine völlig neue Landschaft auf. Stellenweise erinnerte die Szenerie stark an alte Wild-West-Filme. Nur die breite Asphaltstraße störte die Idylle ein wenig. Der Verkehr hatte aber sehr deutlich nachgelassen. Kann sein, dass es am heutigen Sonntag lag, aber nachdem in der Türkei auch Sonntags ganz normal gearbeitet wird, schließe ich diesen Grund eher aus.
Im immer breiter werdenden Flusstal wurde fleissig auf den Reisfeldern gearbeitet. In dieser Region wird offensichtlich sehr viel Reis angebaut. Der Geruch von kalter Asche lag über viele Kilometer in der Luft, da ein Großteil der Felder im Frühjahr abgebrannt wird. Man sah auch wieder viele Hirten mit ihren Herden am Straßenrand. Besonders interessant fand ich die Erscheinung eines etwa 70 jährigen Mannes, der lautstark am Handy artikulierte und mit einem Gewehr auf den Knien seine 15 Kühe bewachte.
Bei der ersten Rast am Vormittag ließen wir uns die Frühlingssonne für ein paar Minuten ins Gesicht scheinen. Auf dem Rücken liegend, die Vögel im Ohr, den blauen Himmel im Blick konnte man den nahenden Frühling schon genießen.
In Osmancik, unser Mittagsdestination angekommen hielten wir kurz im Zentrum an und versuchten ein Lokal ausfindig zu machen. Da dauerte es keine 10 Sekunden, bis 3 Leute um uns standen und uns in die nahegelegene Imbissbude führten. Nach einem köstlichen Döner-Sandwich wurden wir noch vom benachbarten Schuhhändler auf einen Tee eingeladen. Wir diskutierten mit den Anwesenden kurz die weitere geplante Route. Martin und ich hatten uns gestern dazu entschieden, noch etwas länger im Landesinneren zu bleiben und nicht sofort ans Meer zu fahren. Nach Ansicht der Männer in Osmancik soll die im Landesinneren gelegene Strecke aber nicht so schön sein. Ich bin momentan noch nicht so sicher, ob ich so lange am Meer entlangfahren will, daher die Inland-Variante. Ausserdem liegt dort ein schöner Pass mit 2200m vor uns… Morgen Mittag müssen wir uns entscheiden.
Unsere Weiterfahrt verzögerte sich noch ein wenig, da uns kurz vor dem Ortsende ein sehr überzeugungsstarker Junge dazu überredete, mit ihm und seinen Brüdern einen Tee zu trinken. Ein bisschen von meinem Türkisch kann ich jetzt schon anbringen. Zahlen, ein paar einzelne Wörter, wenige Phrasen, das klappt schon ganz gut. In Kombination mit einer Landkarte und etwas Zeichensprache kann man dann schon ins Gespräch kommen. Auch hier gab es wieder einen Onkel in Deutschland…
Hätten wir heute alle Einladungen zum Tee, die uns vom Straßenrand zugerufen wurden angenommen, wären wir vermutlich nie in Gümüshakiköy angekommen. Mir kam vor, dass wir bisher noch nie so oft und intensiv gegrüßt wurden.
Der Übergang war kaum spürbar, aber plötzlich waren die Reisfelder verschwunden. Am Straßenrand reihte sich dafür nun unzählige Gemüsestände auf. In großen Säcken wurden Zwiebel verkauft. In den Gewächshäusern am Straßenrand sah man Salatköpfe durch die löchrige Plane blitzen. Viele Äpfel und die noch verbliebenen Kürbisse vom Herbst warteten darauf, dass sie von Vorbeifahrenden gekauft wurden.
Die letzten 20km bis zum Etappenziel waren noch ein hartes Stück Arbeit. Ein ziemlich langer Anstieg musste bewältigt werden, ausserdem herrschte latenter Gegenwind. Geduldig kurbelten wir uns den Hügel empor, die letzten 2km ging es dann bergab. Im Ort angekommen erkannten wir schnell, dass die Hoteldichte sehr gering war. Auf meine Nachfrage fand sich dann aber doch eine Bleibe. Da das Hotel nicht sonderlich leicht zu finden war (weil es nicht als solches erkenntlich ist), wurden wir von einem Auto dorthin eskortiert. Das Gebäude wirkte wie eine Schule, oder ein Verwaltungsgebäude, doch zu unserer Überraschung gab es dann doch eine Rezeption und einige Zimmer.

Unter Zuhilfenahme des Türkischwörterbuches klappt es jetzt schon ganz gut, dass man ein paar Dinge erfragen kann. Egal wohin wir kommen sind die Leute aber sehr bemüht und reagieren äusserst zuvorkommend auf unsere nicht existenten Sprachkenntnisse. Man merkt aber, wie sehr sie sich freuen, wenn doch ein paar Türkische Wörter zurückkommen. Mit Englisch alleine wäre man hier wirklich aufgeschmissen. Auch Deutsch wird nur sehr sehr selten gesprochen.
Im Ort fallen sofort die vielen Bier-Reklame-Tafeln an den kleinen Supermärkten auf. Es scheint, als ob die Religion hier keinen so großen Stellenwert mehr hat.
Viel mehr Lust als auf ein Bier hatte ich am Abend aber auf ein Eis. Es war wunderbar, bei Temperaturen um15 Grad nach dem Essen das erste Eis des Jahres zu genießen.