Tag 240 – 242 | 28. – 30. September

Seoul: 3 Tage ohne Rad
Warmshowers

In den vergangenen 10 Tagen konnte ich hautnah erleben, wie stark die Art des Reisens und damit auch die Wahrnehmung von Land und Leuten vom Transportmittel abhängt. Hatte ich in den vergangen Monaten stets die grenzenlose Freiheit auf dem Rad genossen, war man in den vergangenen Tagen stets auf fremde Transportmittel angewiesen. Damit verbunden leidergottes auch immer wieder lange und zermürbende Wartezeiten. Manche Ziele mussten wir auch aufgeben, weil die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmittel unvorstellbar komplex wurde. Das Land saust vor dem Zug- / Busfenster vorbei, man hangelt sich von Destination zu Destination, ein “Dazwischen” gibt es kaum noch. Oft scheint es so, als ob man nur an der Schale einer riesengroßen Melone leckt und einfach nicht ins Innere vordringt. Oft genug hatte ich vom Zugfenster aus wehmütig der Landstraße hinterhergeblickt wenn diese in Richtung Berge verschwunden ist. Zur Ehrenrettung des Zuges muss man aber auch sagen, dass man mit dem Zug in relativ kurzer Zeit wirklich viele Orte besuchen kann. Wie wäre es sonst möglich, in etwas mehr als einer Woche Norden, Osten, Westen und Süden von Südkorea erkunden zu können, aber irgendwie fehlt stets ein bisschen was.
Trotz alledem möchte ich die letzten Tage nicht missen. Endlich einmal wieder ausgiebig plaudern, alte Geschichten auszugraben, gemeinsam Dinge zu erleben und in die Zukunft zu blicken. Das ist es, was wohl nur Freunde oder Familie bieten können, eine gemeinsame Vergangenheit und eine Aussicht auf das, was noch kommen kann. Die meisten Bekanntschaften auf der Reise bestehen nur aus dem Hier und Jetzt, geben auch viel Energie, doch die tiefere Verbundenheit fehlt einfach. In vollkommen entspannter Stimmung einige Tage mit guten Freunden zu verbringen ist ein wirklich schöner Abschluss für den ersten Teil der großen Reise. Auch wenn ich Wladiwostok noch nicht erreicht habe, beginnt für mich mental bereits jetzt die Rückreise. Immer wieder blitzen Erinnerungen der vergangenen Monate auf und zaubern mir umgehend ein Lächeln ins Gesicht. Es fühlt sich so an, als ob jetzt ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Monatelang ging es Richtung Osten, getrieben nur vom Gedanken irgendwann in Wladiwostok anzukommen. Nachdem ich nun gut zwei Wochen fahrradfrei verbracht habe freue ich mich aber schon riesig auf die Weiter- / Rückreise. Der Sommer scheint sich nun auch dem Ende zu neigen, jetzt werden wohl schon bald die langen Fahrradklamotten ausgepackt werden. Knapp vier Tage werde ich mit dem Rad noch gen Osten radeln um dann in Donghae auf die Fähre in Richtung Wladiwostok zu steigen. Die Ostküste kenne ich ja schon bereits, freue mich aber schon sehr auf die Fahrt durch die Berge.

Zurück in Seoul wird die Ausrüstung noch einmal überholt. Bereits in Tajikistan hatte aufgrund der lange anhaltenden Regenfahrten mein Vorderlicht das Geistige gesegnet. Nach einem kurzen Telefonat mit der Firma Busch&Müller wurde mir damals umgehend ein Ersatzgerät zugesichert, welches mir Reinhard dankenswerterweise aus Wien mitbrachte. Nach langer Wartezeit, aber gerade rechtzeitig für die Herbst- / Winterperiode kann ich jetzt wieder auf den zu Beginn der Reise bereits liebgewonnenen Scheinwerfer zurückgreifen. Das neue Modell scheint nun gegen Starkregen besser geschützt zu sein.
Meinen zweiten Reisepass samt Russischem Visum halte ich nun auch in Händen, das Fährticket nach Wladiwostok ist reserviert, es kann also losgehen… Doch vorerst gönne ich mir noch drei Tage Ruhe in Seoul. Zu sehen gäbe es ja einiges, aber irgendwie bin ich nach den letzten Tagen ein wenig übersättigt. Tempelanlagen und historische Viertel habe ich in den vergangenen Tagen genug gesehen, doch ein bisschen moderne Architektur reizt mich dann doch. Eine kurze Recherche im Internet und schon sind ein paar Bauten gefunden, die es lohnt anzusehen. Vom Leeum Museum of Art war ich dann aber ein wenig enttäuscht. Ich hatte mir etwas mehr von der Zusammenarbeit der drei renommierten Büros OMA / Mario Botta / Jean Novell erwartet, dafür hat mich die Dongdaemun Design Plaza von Zaha Hadid richtig überrascht. Ein gewaltiger Gebäudekomplex der als Museum, Gallerie und Geschäftsfläche dient. Die öffentlichen Zonen die das futuristisch anmutende Gebäude aufspannt sind gut besucht und trotz der Monumentalität des ganzen Komplexes fühlt man sich nicht eingeengt. Die Architektin wird hier mit ihrem Gebäude regelrecht gefeiert. Auf großen Flachbildschirmen flackern kurze Filmsequenzen auf denen immer wieder die Architektin zu sehen ist. Selten habe ich eine derart enge Verknüpfung eines Bauwerks mit dem / der Architekten/in gesehen.
In direkter Nähe zu Lees Apartment befindet sich die EWHA Womans University, die vor einigen Jahren einen großen Neubau erhielt. Der Entwurf des Französischen Büros von Dominique Perrault sah hierzu einen zweigeteilten Baukörper vor, der sich tief ins Bestandsgelände hineingräbt und damit eine Art Canyon aufspannt. Der Neubau tritt auf den ersten Blick kaum in Erscheinung und der ursprüngliche Campuscharkter bleibt weiterhin erhalten.
Im Gangnamviertel, dem eigentlichen Geschäftsviertel von Seoul, gibt es noch zwei Hochhausbauten zu bewundern, einerseits den geschwungenen “GT Tower East” vom holländischen Büro Architecten Consort und andererseits den Apartmentkomlex “Boutique Monaco Residental Appartment” von Mass Studies. Die Stadtstruktur erinnert hier schon sehr an amerikanische Großstädte mit ihren glänzenden, hochaufragenden Bürogebäuden. So faszinierend diese schon seit langem nicht mehr gesehene Gebäudeformation auch ist, merke ich schlussendlich, dass ich nicht mehr wirklich aufnahmefähig bin und die Stadt mehr oder weniger nur noch an mir vorbeirauscht. Der innere Drang endlich wieder aufs Rad zu steigen und auch die ländlichen Regionen Koreas zu erkunden wird immer größer. Auch nach fast zwei Wochen in Korea konnte ich mich noch nicht richtig an dieses hoch entwickelte Land gewöhnen. Die Umstellung geht für mich einfach zu schnell von Statten. Ich bin froh, mich von Wladiwostok aus relativ langsam in Richtung Europa zu radeln und mich damit schrittweise wieder an den neuen Lebensstil gewöhnen zu können. Jetzt ins Flugzeug zu steigen und binnen weniger Stunden zuhause zu sein könnte ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen. Es wird Zeit, diese lange Pause in Korea zu beenden und mich wieder meinem eigentlichen Ziel, der Rückreise zu widmen. Vielleicht bekomme ich in den kommenden Tagen ja noch ein paar Bissen ab von der Melone an der ich bis jetzt nur geleckt habe.