Tag 277 – 03.November

Jöhvis – Tallinn: 174km; 8:06h im Sattel; 5 – 7 Grad, bedeckt / Nebel / Regen
Warmshowers

Über Nacht hatte es sich zum Glück ausgeregnet und ich konnte die längste Tagesetappe der vergangenen Wochen in Angriff nehmen. Schon von Beginn an war klar, dass es bereits dunkel sein würde, wenn ich in Tallinn ankomme, aber irgendwie wollte ich auf jeden Fall noch heute dort ankommen. Fünf Grad plus und kein Regen waren schon einmal gute Vorraussetzungen. Auf den ersten 15km gabs dann auch noch angenehmen Rückenwind, doch der drehte bald in die falsche Richtung und so wurde es schon bald eine recht kräftezehrende Etappe. Die Sonne ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken und sonderlich viel wärmer wurde es auch nicht mehr. Nach gut dreissig Kilometern gabs zum ersten Mal einen Blick aufs Meer. Eine Herde Schafe trottete über die Wiese und dahinter konnte man schemenhaft im Dunst das Wasser erkennen. Eigentlich hätte ich hier gestern übernachten wollen… Rückblickend betrachtet war es wohl wirklich die beste Entscheidung gewesen, den Tag frühzeitig zu beenden.
Nachdem sich die Straße nun direkt in den Wind drehte wurden die kommenden Kilometer zur Kraftprobe. Zum Glück kamen immer wieder ein paar dichte Wälder, die den Wind ein wenig abhielten. Die sumpfige Gegend, wie ich sie noch aus Russland kannte ist nun gänzlich verschwunden. Es wird viel Landwirtschaft betrieben. Wälder und Felder wechseln sich regelmäßig ab. Auch sieht man fast kaum noch Holzhäuser, statt dessen sind die einfachen Bauernhäuser nun aus Natursteinen aufgemauert.
Sonderlich viel tut sich heute aber nicht, weder auf, noch neben der Straße. Ich trete ununterbrochen vor mich hin, habe streckenweise das Gefühl, dass die Kilometer nur im Zeitlupentempo verrinnen. Doch irgendwann ist die magische Halbzeit erreicht. Am Straßenrand taucht dann auch noch ein kleines Lokal auf und ich kann meine kalten Füße wieder aufwärmen. Gestärkt gehts in die zweite Runde, diesmal sogar mit leichtem Rückenwind, wenn auch nur für etwa eine Stunde. Felder, Wälder, Felder. Wälder… nur selten sieht man mal ein einzelnes Haus. Fast schon melancholisch ist die Gegend hier. Es zieht nun auch Nebel auf, sodass ein Großteil der Umgebung im dumpfen Grau verschwindet. Den ganzen Tag über fahre ich schon mit Licht, die Signalweste leistet heute auch gute Dienste. Nach und nach komme ich meinem Ziel für heute näher. Interessanterweise ist auf den Verkehrstafeln sogar die Entfernung nach Stockholm angeschrieben. Offenbar zählt die Fähre von Tallinn aus als offizielle “Straße”. Wenn das Wetter etwas besser wäre, würde ich womöglich noch einen Abstecher nach Helsinki, oder Stockholm wagen, aber bei diesem tristen Herbsttagen verschiebe ich das lieber mal auf den Sommer.
Noch eine letzte Rast, die Schokoladenreserven vernichten und dann noch einmal für gut zwei Stunden in die Pedale treten. Es beginnt schon dunkel zu werden, als ich die Hauptstraße verlasse und ins Gewerbegebiet von Tallinn einbiege. Zu allem Überfluss beginnt es auch noch zu regnen, doch das kann mich jetzt auch nicht mehr abhalten. Die letzten Meter gehts dann noch am Meer entlang. Stockdunkel liegt das Meer zur Rechten, nur die Brandung hört man ab und zu. Wind und Regen peitschen ins Gesicht, die Kräfte lassen schon langsam nach, doch zum Glück sind es nur noch ein paar Kilometer bis zu Tiits Wohnung. Für zwei Nächte werde ich mich bei Tiit und Signe, zwei begeisterten Tandemfahrern, einquartieren. Die halbe Stunde Wartezeit, bis Tiit aus der Arbeit zurückkommt verbringe ich in der Bäckerei ums Eck. Es gibt Kakao, Sahnetorte und Schokoladencroissant. Willkommen zurück in Europa!
Beim gemeinsamen Abendessen wird ausgiebig übers Reisen geplaudert. Tiit und Signe haben ebenfalls vor, per Rad den Ozean bei China zu erreichen, gehen dieses Vorhaben allerdings etappenweise an. Sie sind immer für ein paar Wochen unterwegs, lassen ihr Rad dann meistens vor Ort und kehren bei der nächsten Gelegenheit wieder dorthin zurück und setzen die Reise fort. Im Moment steht das Tandem an der Grenze zu Georgien und wird wohl den Winter dort verbringen. Im kommenden Sommer gehts dann vermutlich durch Georgien nach Armenien. Bis die beiden schlussendlich den Ozean erreichen gehen sicherlich noch einige Sommer ins Land, aber irgendwann wird es auch so weit sein.

Tag 278 – 04.November

Tallinn: 1 Ruhetag; bisher gefahren 19.646km; 984:46h im Sattel
Warmshowers

Der Husarenritt von gestern hatte ordentlich Energie gekostet. Ein Glück, dass ich in Tiits Haus vollkommen eigenständig sein kann und mir daher auch ein paar Extrastunden Schlaf gönnen konnte. Es ist immer wieder eine Freude, wenn man bei solch netten Menschen aufgenommen wird und sich von der ersten Minute fast wie zuhause fühlen kann.
Nun war ich aber doch recht gespannt auf Tallinn, die Hauptstadt Estlands. Gut ein Drittel der gesamten Bevölkerung lebt hier in der Stadt, wobei ganz Estland meines Wissens nach nur auf etwa 1.3 Millionen Einwohner kommt. In China würde das wohl gerade mal als mittelgroße Stadt durchgehen… Um ehrlich zu sein, bin ich aber ganz froh, dass die Maßstäbe nun wieder etwas kleiner werden.
Nach nur 10 Minuten Fußmarsch war ich auch schon mitten drin in der Altstadt von Tallinn und fühlte mich gleich mal um ein paar Jahrhunderte zurückversetzt. Als ob man sich in eine Zeitmaschine gesetzt hätte, plötzlich wirkte alles so Mittelalterlich. Gut, die Autos durchbrachen vielleicht die Illusion ein wenig, aber sonst war es schon nahe dran. Fast alle Straßen sind mit Kopfsteinpflaster belegt und kein modernes Haus sticht aus dem recht homogenen Straßenbild heraus. Als ob die Stadt einfach im 15. Jahrhundert aufgehört hätte, sich zu entwickeln. Nachdem ich mal wieder völlig unvorbereitet an die Sache herangegangen war, beschloss ich mich einer Stadtführung anzuschließen. Die sog. Free Tours werden in vielen Städten angeboten, zuletzt hatte ich in Sofia an einer derartigen Tour teilgenommen. Erstaunlich viele Gleichgesinnte fanden sich zur Mittagszeit am Stadtplatz ein und schließlich gab es von einer überdurchschnittlich motivierten Studentin ein paar Hard Facts zu Tallinn, gespickt mit allerlei Anekdoten, die teilweise schon sehr an den Haaren herbeigezogen wirkten. Irgendwann war demnach für mich der Punkt erreicht, an dem ich mich wieder auf eigene Faust durch die Stadt bewegen wollte. Einen groben Überblick hatte ich ja schließlich schon erhalten. Und meine Vermutung war richtig… Tallinn war wirklich im 15. Jahrhundert steckengeblieben. Einer der Russischen Zaren hatte Tallinn von der Liste der Handelspartner gestrichen und nachdem Tallinn nur mit Russland Handel betrieben hatte, bedeutete das einen grandiosen finanziellen Abstieg, der sich in einer äusserst reduzierten Bautätigkeit widerspiegelte.
Ich muss ja zugeben, historisch bin ich über das Baltikum recht schlecht informiert. Wobei bei näherer Betrachtung die Geschichte auch äusserst komplex ist. Fast jährlich wechselte die Besatzungsmacht, Unabhängigkeitsbestrebungen währten selten lange und als äusserst kleines Land war Estland meist der Spielball der Großen. Dennoch hatten sie es geschafft, sich von Russland loszusagen und schlussendlich unabhängig zu werden. Der Zerfall der Sowjetunion liegt ja noch im realen Gedächtnishorizont und viele Einwohner Tallinns hatten die Sowjetzeit am eigenen Leib erfahren. Auch Tiit hatte beispielsweise zwei Jahre in der Sowjetischen Armee gedient und während dieser Zeit mehr oder weniger ganz Russland “erkundet”. Die meisten Leute hier sprechen auch noch Russisch, wobei zu meiner großen Freude nun auch der Einfluss des Englischen deutlich zunimmt. Im Supermarkt scheppern die Werbeansagen auf Estnisch und auf Russisch aus den Lautsprechern, in den Cafes und Restaurants wird man in bestem Englisch begrüßt. So wie es aussieht ist die Zeit des “Lost in Translation – Feelings” vorbei.
Obwohl die Altstadt sehr “historisch” wirkt, tut sich recht viel. Unzählige Cafes und Boutiquen, kleine Läden mit lokalen Designprodukten, nette Bars etc. reihen sich aneinander. Eine interessante und überaus spannende Mischung. Leider drückt das leicht regnerische Wetter ein wenig die Stimmung, aber im Sommer macht es sicherlich Freude, sich durchs enge Gassengewirr treiben zu lassen.
Nach einer Weile zieht es mich dann doch noch ans Meer. Von Tallinn aus gibts einen regen Schiffsverkehr nach Schweden und Finnland. Helsinki liegt mehr oder weniger direkt gegenüber von Tallinn und ist nur 80km Luftlinie entfernt. Nach Stockholm ist es ein klein wenig weiter, aber auch dorthin ist es nicht sonderlich weit. Die Verlockung ist groß, einfach auf die Fähre zu steigen, aber um ehrlich zu sein, hält mich das Wetter ein wenig zurück. Für mich gehts morgen weiter in den Süden. Noch ein Tag in Estland, dann gehts schon über die Grenze nach Lettland. Drei Tage gemütliches Pedalieren, dann bin ich auch schon in Riga. Gemütlich – das hoffe ich jetzt mal… wenn der Wind morgen immer noch aus derselben Richtung bläst wie heute, dann wird es doch etwas sportlicher.
In Tiits Keller überhole ich noch mal kurz mein Rad. Das feuchte Wetter setzt Schaltung und Kette schon spürbar zu. In jeder noch so feinen Ritze setzt sich Sand fest, sodass das Schaltwerk auf den letzten Kilometern schon ein wenig Schwierigkeiten gemacht hat. Ich hoffe mal, dass es die kommenden Tage ein wenig reibungsloser weitergeht.