Tag 279 – 05.November

Tallinn – Pärnu: 135km; 5:16h im Sattel; 5 – 7 Grad, bedeckt / leichter Regen
Hostel

Meine Befürchtungen bezüglich des Winds hatten sich – welch Wunder – nicht bewahrheitet. Der Wind hatte über Nacht um fast 180 Grad gedreht und blies nun genau in meine Richtung. Juche… endlich mal eine gute Nachricht am Morgen. Die Straße war trocken und vorerst war kein Regen in Sicht. Den Wunsch nach Sonne habe ich ohnehin schon vor Tagen aufgegeben, also überraschte mich die dicke Wolkenschicht auch nicht mehr. Auf gehts in die nächste Runde, nächster planmäßiger Halt: Riga. Naja, ganz so schnell gehts dann auch nicht. Erst mal muss ich auf die Schnellstraße Nr,4, die mich in Richtung Riga bringt. Ich hieve mein Rad über den kniehohen Bordstein und schon bin ich auf Schiene, erspare mir so den kilometerlangen Bogen, den die Autofahrer ausfahren müssen, um auf die Schnellstraße zu kommen. Erst mal gehts durch Villenviertel von Tallinn. Viele freistehende Villen, hauptsächlich aus den 1930er bis 1950er Jahren reihen sich entlang der recht schwach befahrenen Ausfallstraße auf. Hohe Kiefern geben der ganzen Umgebung einen fast schon mediterranen Flair. Nach gut einer halben Stunde Fahrt hat mich dann das Umland wieder. Felder, Wiesen, Wälder… es geht in gewohnter Manier weiter, aber mit leichtem Rückenwind macht die ganze Sache einfach mehr Spaß. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich für diese Gegend einfach ein paar Wochen zu spät unterwegs bin. Sämtliche Äcker und Wiesen sind menschenleer. Keine einzige Landwirtschaftliche Maschine sieht man auf den Feldern, alles ist schon für den Winter vorbereitet. Einzig im Wald wird noch gearbeitet. Der Geruch von frisch geschnittenem Holz liegt in der Luft. Aber auch hier hat die Moderne Einzug gehalten. Ein einzelner Forstarbeiter sitzt im Harvester, der Holzerntemaschine der heutigen Zeit und legt einen Baum nach dem nächsten um. Wie ein bedrohlicher Roboter wirkt die Maschine, die in Windeseile den eben gefällten Baum in LKW-taugliche Stücke kappt und sich gleich an die nächste Kiefer macht.
Estland ist mit seinen 1.3 Millionen Einwohnern nicht sonderlich dicht besiedelt und so kommt es auch, dass man durch praktisch keine Dörfer kommt. Gegen Mittag bietet sich dann erstmalig die Gelegenheit, die Schnellstraße zu verlassen und in das nur wenige Kilometer entfernte Dorf zu radeln. Im Ort gibt es zwei Lokale, wobei das erste gerade von einer Trauergesellschaft okkupiert wird. Im Ruut 66 Pub gibts dann eine seitenlange Auswahl an Schnitzeln, allesamt mit der berühmt berüchtigten braunen Sauce… Tja, kulinarisch gehört Estland sicherlich nicht unbedingt zu den Top-Ländern dieser Reise, aber Sauce mit viel Geschmacksträger hat auch ordentlich Brennwert, der gerade bei diesen Temperaturen nicht zu unterschätzen ist.
Mein geplantes Tagesziel schiebe ich großzügig nach hinten und versuche noch bei Tageslicht Pärnu, einen Badeort direkt am Meer, zu erreichen. Es beginnt zu regnen, aber vor mir am Horizont kann man einen hellen Streifen erkennen. Besteht eventuell noch die Chance auf ein wenig Sonne heute? Ich trete in die Pedale und versuche so einerseits dem Regen zu entkommen und andererseits noch in den Genuss von ein paar Sonnenstrahlen zu kommen, aber leider bin ich für letzteres ein wenig zu langsam. Immerhin bin ich nach zwei Stunden aus der Regenzone draussen. Pärnu rückt immer näher und ich freue mich über den geschmeidigen Radeltag. Nach dem Kraftakt von vorgestern scheint mir heute alles recht leicht von der Hand zu gehen.
Um kurz vor 16 Uhr rolle ich in Pärnu ein, finde auf Anhieb das gesuchte Hostel und werfe mich gleich einmal unter die brennend heisse Dusche. Für 10 Euro gibts ein Bett im 4er Zimmer mit angrenzendem Aufenthaltsraum samt Küche. Endlich stimmt das Preis Leistungsverhältnis wieder.
Im Sommer scheint Pärnu der “Place to be” in Estland zu sein. Ein Badeort mit langer Tradition, jetzt im Winter ist der gesamte Ort erwartungsgemäß wie ausgestorben. Mein Spaziergang am Strand endet schließlich auch in der Dunkelheit, aber das Gefühl ist irgendwie ganz besonders. Zum letzten Mal stand ich in Wladiwostok am Strand und habe meinen Blick in Richtung Japan schweifen lassen, jetzt stehe ich mehr oder weniger auf der anderen Seite dieses gewaltig großen Erdteils und stelle mir vor, dass nicht einmal 400km von hier entfernt Stockholm liegt.

Tag 280 – 06.November

Pärnu – Riga: 190km; 8:08h im Sattel; 4 – 9 Grad, bedeckt
Hostel

Bei Tageslicht machte der Ort Pärnu fast noch einen sympathischeren Eindruck als bei Nacht. Zahlreiche Sommervillen, vielfach aus Holz, mit feingliedrigen Details prägen das Ortsbild. Viel Grün und zahlreiche Parks lassen erahnen, dass man im Sommer hier gut und gerne ein paar Tage verbringen kann. Ich statte dem Strand bei Tageslicht noch einen kurzen Besuch ab und breche dann auf. Nach ein paar Kilometern taucht die erste Hinweistafel nach Riga auf und so langsam beginne ich zu grübeln, ob ich die Strecke bis Riga vielleicht doch an einem Tag bewältige. An sich wollte ich zuerst bis nach Limbazi fahren und dann die letzte Etappe morgen in Angriff nehmen, aber mit der Zeit setzt sich der Gedanke immer mehr fest, dass ich doch auch schon heute nach Riga kommen könnte. Ich überschlage immer wieder die potentielle Fahrzeit und entscheide mich schlussendlich für die lange Tagesetappe. Es ist trocken und es weht fast kein Wind, also eigentlich recht gute Bedingungen.
Von Pärnu aus verläuft die Straße relativ nahe am Meer, wobei das Wasser eigentlich nur äusserst selten zu sehen ist. Die Straße verläuft durch dichten Wald, der sich auf den unzähligen Sandhügel entlang der Küste angesiedelt hat. Man hat fast das Gefühl, die Straße duckt sich im Schutze der Sandhügel und der Föhren. Viele Bäume haben eine beachtliche Schieflage, offenbar gibt es hier vom Meer her teils kräftigen Wind. Nach gut zwei Stunden Fahrt bietet sich die Gelegenheit, dass ich die Hauptstraße verlasse und auf eine kleine Nebenstraße in Küstennähe einbiege. Es geht durch eine Handvoll kleiner Feriendörfer in denen nur äusserst wenige Einheimische die Stellung halten. Die meisten Häuser sind offenbar nur im Sommer bewohnt. Die Holzhäuser sind bunt angestrichen und die ersten Schilfgedeckten Dächer tauchen auf. Gut 30km gehts in diesem Ton dahin. Immer wieder mal öffnet sich ein wunderbarer Blick aufs Meer. Ein paar Regentropfen lassen die Angst vor einer längeren Regenfahrt aufkommen, doch zum Glück war das nur ein sehr kurzes Intermezzo.
Und plötzlich bin ich dann in Lettland. Absolut unspektakulär geht der “Grenzübertritt” von Statten. die Flaggen von Estland und Lettland markieren noch den Grenzverlauf, doch sonst weist nichts auf eine Grenze hin. Sozusagen als Willkommensgeste in Lettland kann man nun auch schon fast die Sonne hinter den Wolken erahnen. Derart viel Helligkeit gab es schon lange nicht mehr… Nun also Lettland – das zweite der drei Baltischen Länder. Etwas abseits der Straße bietet ein Hotel Business Lunch für 5 Euro an, da kann ich nicht nein sagen und werde mit einem grandiosen Menü überrascht. Noch 110km liegen vor mir, doch ich bin guter Dinge. Ein paar Mal noch gibt es die Möglichkeit, einen Blick auf die fast spiegelglatte See zu werfen, dann knickt die Straße ein wenig ins Landesinnere ab. Es geht wieder durch dichte Föhrenwälder in denen sich immer wieder mal eine kleine Ansiedlung versteckt. Man muss genau schauen, aber dann erkennt man ab und an ein paar Häuser, umgeben von nichts als Wald.
Der Verkehr hält sich in Grenzen und dank der kaum noch existenten Spikes bei den PKWs ist der Verkehr auch um Welten leiser geworden.
Plötzlich taucht am Straßenrand eine Art Vergnügungspark auf und alles deutet darauf hin, dass es sich hier um einen Themenpark für den Baron von Münchhausen handelt. Am Straßenrand ein verschmitzt lächelnder Baron auf einer Kanonenkugel sitzend… Meines Wissens nach kam Münchhausen doch aus Deutschland, aber scheinbar hatte er auch hier gewirkt. Meine spätere Recherche ergab, dass der gute Baron mit seiner Frau hier in Dunte sechs Jahre in einem Landgut gelebt hatte. Deshalb hatte man auch dort ein Museum und den Themenpark “Minhauzena Unda” errichtet.
Für mich gings aber nicht auf der Kanonenkugel, sondern wie gewohnt, auf meinem Rad weiter. Kilometer um Kilometer schmolz dahin und Riga rückte immer näher. Es begann zu dämmern und irgendwann war es dann auch richtig dunkel. Meine Beleuchtungsanlage leistete gute Dienste und so kam ich auch in der Dunkelheit recht gut voran. Ich hatte mir im Vorfeld schon ein Hostel in Riga reserviert, doch leider war mir damals nicht bewusst, dass das Hostel nicht sonderlich zentral gelegen ist. Also erst einmal rein ins Zentrum und dann noch drei Kilometer nach Westen in die Moskauer Vorstadt. Hier scheinen sich Fuchs und Hase gute Nacht zu sagen… Aber dafür war das Hostel ruhig gelegen. Endlich die Gelegenheit, meine Freizeithose zum ersten Mal seit Seoul wieder in die Waschmaschine zu geben. Eine Grundreinigung meiner Klamotten war mal wieder dringend notwendig. Unnötige Bewegungen wurden heute Abend tunlichst vermieden. Die eben erst bewältigten 190 Kilometer machten sich nun doch bemerkbar und die Horizontale war von nun an meine bevorzugte Position.

Tag 281 – 07.November

Riga – 1 Ruhetag; bisher geradelt: 19.973km; 998:18h im Sattel; 8 – 10 Grad, Regen
Hostel

Meine Beine scheinen sich schon langsam an die langen Etappen zu gewöhnen. Als ob nichts gewesen wäre konnte ich heute Morgen in den verregneten Tag starten. Es hatte sich also als sehr vorteilhaft erwiesen, dass ich gestern noch die zusätzlichen Kilometer in Kauf genommen hatte und dafür trockenen Fußes in Riga angekommen bin. Nachdem das Hostel nicht unbedingt in Fußdistanz zum Zentrum Rigas gelegen ist, schwang ich mich kurz aufs Rad und war binnen weniger Minuten schon im Altstadtkern. Der Nieselregen wurde nach und nach stärker und es zeichnete sich ein recht feuchter Tag ab.
Im Gegensatz zu Tallinn verfügt Riga über keine Stadtmauer mehr. Diese wurde komplett geschliffen und durch einen umlaufenden Kanal ersetzt. Mag sein, dass es alleine daran liegt, dass keine Stadtmauer mehr sichtbar ist, aber Riga wirkt irgendwie ein wenig offener. Im Vorfeld hatte ich ja schon einiges Gutes von Riga gehört, jetzt war ich nun mal gespannt, was die Stadt architektonisch zu bieten hat. Das Wetter hätte – wie in den vergangenen Tagen auch – durchaus besser sein können, aber immerhin saß ich bei dieser Dauerdusche nicht am Rad.
Ich flaniere ein wenig durch die Altstadt, wandere in Richtung Zentralmarkt, werde aber vorher noch auf ein doch recht aussergewöhnlichen Bauwerk aufmerksam. Fast wie eine kleine Kopie einer der Sieben Schwestern in Moskau wirkt der Kulturpalast von Riga. Das erste Hochhaus der Stadt sollte ursprünglich Stalin zu seinem Geburtstag präsentiert werden. Damals war es noch als Haus der Bauern konzipiert, weil Stalin die Zukunft des Landes in der Landwirtschaft sah. Nach seinem Tod wurde es der Wissenschaft gewidmet, da diese nun die Zukunft des Landes war. Heute ist das Gebäude privatisiert und wird von unzähligen Firmen und Institutionen genutzt. Was die Zukunft des Landes ist, kann man jetzt nicht mehr klar definieren…
Gleich ums Eck liegt der Zentralmarkt von Riga, ein Ensemble aus vier großen, ehemaligen Zeppelinhallen. Zeppeline gab es hier in Riga allerdings nie, die Dächer wurden schlichtweg von einer verlassenen Militärstation der Deutschen in der Nähe gekauft und dienten fortan als fixe Überdachung des Marktes. In Halle eins gibts Fleichprodukte jeder Art. Direkt hinter den Verkaufstresen wird das Fleich zerteil, die Auswahl ist gigantisch. Fleisch wohin man nur blickt… Halle zwei bietet Milchprodukte, also Käse, Brot und Gebäck, Halle drei überrascht mit frischem Obst und Gemüse und allerlei Eingelegtem und schlussendlich in Halle vier gibts das, wofür Lettland eigentlich berühmt ist – Fisch. In einer Hälfte geräucherten, in der Anderen frischen Fisch. Die Preise sind überraschend niedrig. Auf keinem Fischmarkt hatte ich bisher irgendwo frischen Fisch für 80 Cent das Kilo gesehen. Besonders imposant ist aber der viele Lachs der hier verkauft wird. 10 Euro fürs Kilo wirken jetzt aber auch nicht übertrieben. Generell habe ich den Eindruck, dass hier auf dem Markt das Preisniveau relativ niedrig ist. Wo bekommt man sonst noch Gebäck und Süßkram um 20 – 50 Cent?
Auf dem Markt wird viel russisch gesprochen, was vielleicht daran liegen mag, dass direkt angrenzend die Moskauer Vorstadt liegt, ein vor allem von älteren, einkommensschwachen, oft russisch stämmigen Personen bewohnt wird. Aber auch in der Stadt hört man auffällig viel Russisch.
Was an Riga zumindest architektonisch sehr speziell ist, das ist die hohe Dichte an Jugendstilbauten, womöglich einzigartig in dieser Form. Die Frage drängt sich auf, weshalb man in Riga derart viele Bauten aus dieser doch recht kurzen Stilepoche finden kann. Gegen Ende der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich Riga als Handelsstadt und die Händler erwirtschafteten binnen kurzer Zeit ein beachtliches Vermögen. Nun wollte man sich auch modern und weltoffen zeigen und so viel in die zeitgenössische Architektur investiert. Zu dieser Zeit waren relativ viele Architekten in Riga tätig, was auch erklärt, dass kein Haus dem anderen gleicht. Beinahe schon alle paar Tage wurde ein neues Gebäude eingeweiht. Kaum vorstellbar, dass binnen weniger Jahre über 800 Bauten im Stil des Jugendstil entstanden. Sowohl im historischen Altstadtkern, als auch in den angrenzenden Bezirken finden sich auch heute noch unzählige Beispiele dieser doch recht speziellen Stilepoche.
Beim Spaziergang durch die Stadt spürt man regelrecht den Stolz und die finanzielle Potenz der Händler und Geschäftsleute von damals, die sich mit ihren Gebäuden ein Denkmal setzen wollten. In manchen Straßenzügen reiht sich ein prachtvoll dekoriertes Gebäude ans nächste. Mit ein wenig Sonne und blauem Himmel wäre das alles sicherlich noch viel imposanter, aber auch so lässt sich der Zauber der Stadt gut begreifen. Schlussendlich ist man aber nach einem ganzen Tag im Regen trotzt hochwertiger Regenausrüstung ausgekühlt und leicht durchnässt, also hält es mich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr lange in der Stadt, ich werfe mich in den abendlichen Berufsverkehr und versuche bei mehr als unangenehmen Nieselregen nicht den Überblick zu verlieren. Sonderlich rücksichtsvoll sind die Letten beim Autofahren nicht unbedingt, aber in den letzten Monaten habe ich jetzt schon so viel gesehen und erlebt, dass mich das auch nicht mehr aus der Reserve locken kann.
Ein Lichtblick für den morgigen Start: laut Wettervorhersage sind zwei trockene Tage angesagt. Ich schenke diesem Gerücht mal Glauben und hoffe auf eine gemütliche Etappe nach Vilnius.