Tag 288 – 14.November
Olsztyn – Gdansk: 166km; 6:54h im Sattel; 7 – 9 Grad, bedeckt
Hostel
Tagwache um sechs Uhr morgens… Der Speisesaal der Jugendherberge könnte leicht zwei Schulklassen gleichzeitig aufnehmen, jetzt sitze ich etwas verloren im großen Kellerraum und genieße die morgendliche Ruhe. Es wird langsam hell und somit auch schon höchste Zeit, sich wieder aufs Rad zu schwingen. Heute soll es noch bis Gdansk (Danzig) gehen. Entgegen meinen bisherigen Verkehrserfahrungen in Polen ist der morgendliche Berufsverkehr in Olsztyn etwas aggressiv, doch es dauert nicht lange und ich habe die Stadtgrenze hinter mir gelassen. Für mich ist es immer wieder ein Rätsel, wie sich die dichten Autokolonnen plötzlich ins Nichts auflösen können.
Es geht wieder auf untergeordneten Alleestraßen dahin. Kaum Verkehr, überwiegend guter Asphalt und viel Natur… Traumhaft zu radeln. Vielleicht ist das ja eine der großen Stärken der alten Alleestraßen, dass sie aufgrund des Baumbestands einfach nicht erweitert werden können und demnach auch zukünftig nicht mit einem größeren Verkehrsaufkommen zu rechnen ist. Die großen Schnellstraßen wurden überwiegend neu angelegt und verlaufen mehr oder weniger parallel zum alten Straßennetz.
Zwar ist es heute schon mal um zwei Grad wärmer als gestern, trotzdem werden die Füße nach ein paar Stunden am Rad langsam kalt. Bis zur Mittagspause ist es aber noch eine Weile hin. Einziger Nachteil eines frühen Starts in den Tag ist die Tatsache, dass man recht lange im Sattel sitzt, ehe man sich in einem Lokal wieder aufwärmen kann, nachdem die meisten Lokale hier erst gegen 11:30 öffnen.
Die Landstraße führt mich durch zahlreiche kleinere Dörfer mit großen Höfen aus Backstein. Immer häufiger trifft man nun auch auf Dorfkirchen und nich weit davon entfernt meist auch ein Dorfteich. Pferde und Kühe weiden gemeinsam auf den großen Wiesen. Das Leben hier wirkt sehr beschaulich zu sein. Viele Storchennester thronen auf den Masten der Telefonleitungen und vor fast jedem Haus lehnt auch ein Fahrrad. Immerhin ist zumindest hier das Auto noch nicht Fortbewegungsmittel Nummer Eins.
Ich lasse nun hochoffiziell das Gebiet der Masuren hinter mir, in mehreren langen Abfahrten gehen nun die Höhenmeter der letzten Tage wieder dahin. Ich erreiche Paslek, die nächstgrößere Stadt nach Olsztyn und von nun an gehts wieder flach dahin. Die Umgebung ähnelt nun wieder mehr der Landschaft im Baltikum, noch gibt es ein paar Kilometer Alleebäume, doch dann stößt die Landstraße auf die S7, eine stark befahrene, Autobahnähnliche Schnellstraße. Zum Glück verläuft die Landstraße aber noch bis nach Elblag parallel zur S7.
Die 100km Marke ist erreicht und jetzt ist auch endlich Zeit zum Mittagessen. Zur Abwechslung mal was mit Fisch, nachdem ich mich ja schon im Anflug an Meer befinde… Den Häusern der Altstadt nach zu urteilen scheint Elblag in der Vergangenheit eine sehr florierende Stadt gewesen zu sein. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Altstadt aber scheinbar dem Erdboden gleichgemacht. Bilder vom zerstörten Warschau kommen mir in den Kopf, doch im Gegensatz zu Warschaus Altstadt, die detailgetreu wieder aufgebaut wurde, hatte man in Elblag einen anderen Weg eingeschlagen. Die Fassadenstruktur erinnert noch stark an das historische Bild der Stadt, doch wurden die Häuser hier mit den Mitteln und der Sprache der Nachkriegszeit wieder aufgebaut. Kurz bevor ich mich wieder auf den Weg mache sticht mir noch ein schwarzes, spitz aufragendes Gebäude ins Auge, das von der Ferne noch nicht klar einzuordnen ist. Es geht in die Neustadt von Elblag und nach ein paar Minuten auf dem Rad stehe ich plötzlich vor einem Ungetüm an Kirche, dass ich anfangs nicht weiß, ob ich schmunzeln, oder betroffen sein soll. Wenn man bedenkt, dass Kirchenbauten häufig die Gläubigen klein und unbedeutend erscheinen lassen sollen und eine gewisse Ehrfurcht evoziert werden soll, dann ist dieses Vorhaben bei der Kirche in Elblag zur Gänze aufgegangen. Der dunkle Koloss ragt steil empor und erinnert fast mehr an eine futuristische Burg, denn an eine Kirche, doch das Kreuz am Kirchturm lässt keinen Zweifel aufkommen…
Von nun an ist es vorbei mit der Ruhe und der Beschaulichkeit der Landstraße. Ich fädle mich ein auf die S7 und pedaliere mit angenehmem Rückenwind in Richtung Gdansk. Kein einziger Hügel ist mehr zu überwinden, es geht flach wie ein Brett dahin und ich erreiche schlussendlich mal wieder bei Einbruch der Dunkelheit die Stadt. Imposante Backsteinbauten mit hoch aufragend Frontgiebeln empfangen mich in der Altstadt von Gdansk. Im Vorfeld hatte ich mir zum Glück schon drei unterschiedliche Hostels angesehen, denn die ersten beiden waren nun auch schon ausgebucht, doch Hostel Nummer drei hatte noch genug Betten im Schlafsaal frei.
Nach der zwingend erforderlichen Dusche habe ich noch ausreichend Zeit, mir die Beine in der nahe gelegenen Altstadt zu vertreten. Nach und nach zieht immer dichterer Nebel auf und die Brille beschlägt schon alleine beim Gehen. Die Stadtbesichtigung wird auf den folgenden Tag verschoben, ich ziehe mich ins Hostel zurück und genieße dank guter Internetverbindung ein paar Stunden Musikgenuss – ein rares und demnach herrlich entspannendes Vergnügen.
Tag 289 – 15.November
Gdansk: 1 Ruhetag; bisher geradelt: 20.906km; 1038:03h im Sattel; 8 Grad, bedeck
Hostel
Nachdem ich in den vergangenen vier Tagen ordentlich Meter gemacht hatte, freute ich mich nun schon richtig auf einen Tag Entspannung. Ausschlafen, in Ruhe ausgiebig frühstücken und den Tag einfach langsam starten lassen… Mein Hostel lag in Gehdistanz zum historischen Stadtkern von Gdansk und so konnte ich gemütlich in die Stadt spazieren. Vieles hatte ich ja bereits gestern Abend gesehen, doch bei Tageslicht sieht die Sache dann doch ganz anders aus. Man spürt, dass Gdansk auf eine lange und vor allem erfolgreiche Geschichte zurückblicken kann. Das Stadtrecht wurde beispielsweise schon im frühen 13. Jahrhundert verliehen und die strategisch gute Lage in absoluter Meernähe trug dazu bei, dass sich die Hansestadt prächtig entwickeln konnte.
Die Hausfassaden weisen teilweise sehr aufwendige Dekorationen auf und auch wenn es sich oftmals um sehr schmale Häuser handelt, so strahlen ihre Gibelfassaden einen fast schon imperialen Glanz aus. Abseits der städtischen Hauptachse, dem langen Markt, wird in den nicht minder prächtigen Parallelgassen hauptsächlich Bernsteinschmuck feilgeboten. Der Andrang an Touristen hält sich aber trotz beginnendem Wochenende noch in Grenzen, womöglich trägt das feuchtkühle Wetter doch dazu bei, dass der eine oder andere Tagestourist ausbleibt.
Ins Auge stechen die steineren Wasserspeier, welche sich nicht wie üblich am Dach befinden, sondern im hiesigen Fall auf Kopfhöhe. Die Regenrohre werden – so wie auch schon in Russland, oder im Baltikum, offen vom Dach herabgeführt, enden hier allerdings in einer steineren Rinne, welche von der Hausfassade wegführt und in einem ebenfalls aus Stein gearbeiteten Drachen- / Schlangen- / Menschenkopf endet. Die Eingänge zu den Häusern befinden sich auf einer Art Halbgeschoß, sodass eine zweite Ebene überhalb des Gassenniveaus entsteht. Schmale Treppen führen in die kleinen Läden und Geschäfte hinab, breite Treppen zu den Hauseingängen hinauf. Fast alle Gassen sind mit großen Kopfsteinpflaster gepflastert,
Der hohen Dichte an italienischen Lokalen nach zu urteilen, könnte man fast meinen, man hält sich in Italien auf, doch ab und an findet sich auch noch ein polnisches Lokal. Ich bin völlig überrascht, wie häufig man nun wieder Englisch auf der Straße hört und wie selbstverständlich auch die Touristen mit den Einheimischen in Englisch kommunizieren. Keine Frage, ob das Gegenüber eventuell Englisch spricht, hier geht man einfach davon aus, dass jeder Englisch versteht. Irgendwie bin ich selbst aber immer noch in meinem Zeichensprachemodus gefangen und muss mich erst noch daran gewöhnen, jetzt wieder ohne Nachzudenken Englisch sprechen zu können.
Beim Stadtspaziergang durch Gdansk besteht immer wieder akute Gefahr einer Nackensteife. Die hochaufragenden Gebäude mit den teilweise reich dekorierten Giebelbereichen lassen mich minutenlang mit in Nacken gelegtem Kopf umherlaufen. Zum Glück ist die Altstadt verkehrsberuhigt, sodass man ohne besondere Vorsicht umherlaufen kann. Auch wenn ich mich selbst wie ein “Hansguckindieluft” fühle, kann ich meinen Blick nicht lange “unten” halten, viel zu viel spielt sich weit über dem üblichen Blickniveau ab.
Noch bestaune ich die Harmonie des Altstadtkerns und grüble darüber nach, was wohl geschehen ist, dass Gdansk den Krieg derart gut überstanden hat, doch dann stoße ich auf zwei große Bilddarstellungen, die Gdansk im Jahre 1945 zeigen. Ähnlich wie Warschau war auch Gdansk praktisch völlig dem Erdboden gleichgemacht. Kaum ein Gebäude war unbeschädigt geblieben, die Stadt glich einem einzigen Trümmerfeld. Offenbar war man hier einen anderen Weg als in Elblag. Ebenso wie in Warschau hatte man versucht die Stadt fast detailgetreu wieder so aufzubauen, wie sie vor dem Krieg ausgesehen hatte. Nun kommt natürlich die Frage nach der Authentizität auf. Steht man nun vor historischen Attrappen und wieviel von dem was man für original hält ist wirklich noch alt? Zumindest in der Marienkirche, wohl die größte Backsteinkirche, die ich je zu Gesicht bekommen habe, erkennt man im Inneren noch gut die Abdrücke der Schalungsbretter der Betonarbeiten an den Pfeilern. Das gotische Gewölbe muss demnach auch zur Gänze nachgebaut worden sein, denn auf den historischen Darstellungen war bis auf ein paar Reste der Mauern nicht mehr viel erhalten geblieben vom riesigen Kirchenbau.
Beeindruckend auch die gewaltige astronomische Uhr, welche im Seitenschiff der Marienkirche aufgestellt ist. Das technische Wunderwerk wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts hergestellt, funktionierte aber offenbar nie so wirklich perfekt.
Selbst noch jetzt wird an der Wiederherstellung eines historischen Stadtbildes gearbeitet. Eine Seitengasse ist großflächig eingerüstet und hoch oben in den Giebeln arbeiten Spezialisten daran, historische Motive in Sgraffito-Technik in den Putz zu kratzen. Eine offenbar sehr zeitaufwendige Arbeit, aber das Ergebnis kann sich schon jetzt sehen lassen.
Nach ein paar Stunden Stadtrundgang wird es nun aber schon empfindlich kühl. Eigentlich hätte ich Lust, mich einfach nur eine Stunde auf den Hauptplatz zu setzen und dem Wochenendtreiben zuzusehen, aber ich gebe dem Wetter klein bei und ziehe mich ins Hostel zurück. Ich studiere meine Straßenkarte und tüftle ein wenig an der Route für die kommenden Tage. Wenn möglich möchte ich wieder ein wenig abseits der Hauptverkehrsachsen unterwegs sein. Als Grenzübertritt nach Deutschland habe ich mich für Usedom entschieden. Wenn mich nicht alles täuscht kann man hier mit der Stadtfähre von Swinemünde übersetzen. Dafür kann ich zuvor noch einige Kilometer direkt am Meer entlangradeln und meide somit den stark frequentierten Grenzübertritt bei Stettin. Bin mal gespannt, ob mein Plan aufgeht. Wenn nichts dazwischenkommt werde ich nun schon in drei Tagen in den deutschen Sprachraum zurückkehren. Von der Grenze aus ist es dann auch nicht mehr weit bis nach Berlin, wo ich mich mal für ein paar Tage regenerieren werde. Bleibt nur zu hoffen, dass die Polnische Landschaft auch in Meeresnähe ähnlich reizvoll ist, wie in den Masuren.
2 Responses to Tag 288 / 299: Vorsicht Nackenstarre!
runter vom gas! 😉 jetzt geht mir das ja fast ein bisschen zu schnell mit der rückreise 🙂 gabs in der wolfsschanze eigentlich einen keller?
in der wolfsschanze gabs natürlich auch einen keller, allerdings nur vorratsräume. die bunker selbst waren nicht unterkellert. aber knapp 20km weiter östlich gibt es offenbar noch vollständig erhaltene bunkeranlagen, die größtenteils unterirdisch sein sollen. den ausflug hab ich mir aber gespart…
die bunker in der wolfsschanze erinnern ziemlich an den gesprengten flackturm in berlin – viel und vor allem dicker beton.
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