Tag 21-23

Istanbul, 3 Ruhetage…Zwischenstand: 1894km
10-16 Grad, bewölkt
Hostel

So, nun ist das erste Etappenziel endlich erreicht. Schlussendlich ging alles weit schneller als gedacht. Die Freude ist groß, den ersten Schritt gemacht zu haben. Bisher hat alles sehr gut funktioniert. Es wäre traumhaft, wenn die Reise so weitergeht.
Bei meinen ersten Unterhaltungen in Istanbul zeigte sich, dass die kommenden Etappen sehr anspruchsvoll werden. Viele Höhenmeter liegen vor mir, bis der nächste Meilenstein (Tiflis) erreicht ist. Ich bin aber sehr guter Dinge. So langsam scheint man sich körperlich auf die Beanspruchung eingestellt zu haben. Der Rhythmus ist schon annähernd da…
Mein Hostel liegt ein paar Meter hinter dem Galata Turm. Wie sich herausstellen sollte, genau die richtige Lage. Ich hatte ein paar Adressen von Leuten in der Stadt, die ich gerne treffen wollte. Wie es der Zufall will, wohnen alle im Umkreis von 500m.
Gleich am ersten Abend wurde ich von Herbert und Eliane zum Abendessen eingeladen. Bei köstlichen türkischen Ravioli bekam ich einen ersten Einblick, in das Alltagsleben von Istanbul. (vielen Dank an Herbert und Eliane für den herzlichen Empfang!)
Ähnlich wie Sofia scheint Istanbul am Morgen noch sehr verschlafen zu sein. Ach im Hostel ticken die Uhren anders. Frühstück erst ab 9 Uhr… Es ist dafür sehr angenehm, durch die schläfrige Stadt zu schlendern. Ich war erstaunt, wie hügelig Istanbul ist. Die verwinkelten Gassen machen eine Orientierung anfangs etwas schwer, doch nach ein paar Stunden klappt das dann auch ganz gut. Ich schlendere über den, noch fast menschenleeren Taxim Platz und tauche ein in ein dichtes Gassengewirr, das mich wieder In Richtung Bosporus bringt. Zum Mittagessen treffe ich Selva Gürdogan und ihren Mann, die beide das Architekturbüro Superpool führen. Leider hatte ich ihren Vortrag letzten Herbst in Wien verpasst, aber wer Interesse hat, im Sommer wird Superpool in Wien im MAK einen Teil ihrer Arbeiten präsentieren.
Ein befreiendes Gefühl ist es, eine Großstadt einmal ohne Stadtführer zu erkunden. Man kann sich völlig ungezwungen treiben lassen und wird immer wieder positiv überrascht. Ich hatte mir Istanbul hektischer vorgestellt. Obwohl ich mich in den letzten Wochen primär in ländlichen Gebieten aufgehalten habe, fällt der Wechsel in das großstädtische Treiben sehr leicht. Das Rad steht sicher verwahrt in der Küche des Hostels. Anfangs hatte ich nur für eine Nacht gebucht, doch nachdem Martin Wille nun auch in Istanbul angekommen ist, hatten wir beschlossen, die weiteren Tage im Selben Hostel zu verbringen. Daher musste ich leider auch das sehr großzügige Angebot von Serkan ausschlagen, in seinem Tanzstudio die kommenden Tage zu verbringen.
Istanbul ohne Sightseeing ist natürlich schwer vorstellbar. Auch ohne konkreten Plan wird man an den größten Sehenswürdigkeiten vorbeigespült. Ich merke aber immer wieder, dass ich mich in den großen Touristenmassen nicht sehr wohl fühle und flüchte aufs Boot, um mir Istanbul vom Wasser aus anzusehen. Nachdem die Temperaturen deutlich in den Keller gesunken sind, war klar, dass am Abend ein Hamam besucht werden musste. Serkan hatte mir ein sehr ursprüngliches Hamam in der Nähe empfohlen. Ein Tip, der Gold wert war. Luxus war hier zwar keiner zu suchen, doch dafür erhielt man einen Einblick in ein authentisches Hamam, das zu 98% von Leuten aus der Gegend besucht wird. Die Wände waren teilweise schon grün, der Geruch in der Luft etwas abgestanden, doch die Massage war traumhaft und der Service sehr zuvorkommend. Nachdem mir Eryt einen Großteil meiner Haut abgeschrubbt hatte, ging´s in die Sauna, danach Massage auf dem heißen Stein. Genau die richtige Behandlung nach den ersten Wochen auf dem Rad.
Beim abschließenden Ausschwitzen konnte ich noch einmal die letzten Wochen Revue passieren lassen.
Völlig entspannt startete ich nach dem Hamam in den nächsten Tag. Martin Wille checkte im Hostel ein und wir erkundeten die Stadt von nun an gemeinsam. Selva hatte mir den Kontakt zu Tan vermittelt, einem Fotografen und passionierten Radfahrer. Er hatte mich eingeladen, am Abend bei Critical Mass Istanbul teilzunehmen. Diese Gelegenheit ließen wir uns natürlich nicht entgehen. Dazu mussten wir aber erst mal mit der Fähre übersetzen. Die Fahrradszene in Istanbul beschränkt sich aktuell doch noch mehr auf die asiatische Seite.
Etwa 50-60 Leute fanden sich ein. Martin und ich erregten gleich zu Beginn Aufmerksamkeit mit unseren Rädern. Schnell wurde Kontakt geknüpft und viel geplaudert. Fahrradklingeln untermauerten die Protestrufe nach mehr Akzeptanz für Radfahrer. “Araba dan in, Biciklete bin!” soviel wie: raus aus dem Auto, rauf auf´s Rad, oder “Köprü degil bisiklet yolu” (keine Brücke, sondern Radwege) waren die Schlachtrufe auf der ca. 90 minütigen Rundfahrt. Die Reaktionen der Passanten waren durchgehend positiv. Die Verkehrsbelastung scheint den Leuten vor Ort auch ein Dorn im Auge zu sein. Und die Vorstellung einer dritten Bosporusbrücke stößt bei vielen nicht unbedingt auf Verständnis.
Danke an Okay, Edibe, Jean Michel und Sedur für den netten Abend am Fuße der Bosporusbrücke! Es war uns eine Freude, mit euch gemeinsam durch das nächtliche Istanbul zu radeln.
Tan konnte leider nicht bei Critical Mass mitfahren, weil er noch mit Dokumentarfilmarbeiten beschäftigt war. Dafür traf ich ihn einen Tag später auf ein Feierabend-bier. Seine Geschichten fesselten uns. Er schilderte, wie die Proteste um den Gezi Park starteten, wie seine Fotografenfreunde ihn Anfangs belächelten, dass er eine Fotoserie vom Park machte und wie er plötzlich mit einer Polizeimacht konfrontiert wurde, die ohne Rücksicht gegen die eigenen Leute vorging, wie tausende Menschen protestierten, seine Frau angeschossen wurde und er nach mehreren Tagen tränenüberströmt in Mitten der Menge sein Fahrrad und das Zelt wiederfand.
Seine Geschichten über wahnwitzige Projekte der türkischen Regierung brachten uns alle zum Lachen, obwohl es eigentlich keinen Grund zu Lachen gibt. Entgegen den Rat vieler Experten soll ein Kanal parallel zum Bosporus gegraben werden und dadurch eine zweite Meerverbindung geschaffen werden. Hier könnten dann z.B. die Russen mit ihren Schiffen passieren, was ihnen beim Bosporus ja untersagt ist. Die ökologischen Konsequenzen werden völlig ignoriert. Auch die dritte Bosporusbrücke ist ein ähnliches Thema, ebenso wie die nicht ausreichende Trinkwasserversorgung der Stadt. Medial wird über vieles nicht berichtet, doch als Bewohner der Stadt sprechen sich derartige Pläne natürlich rasch herum.
Tan ist in Istanbul groß geworden und hat den Wandel miterlebt, den die Stadt in den letzten Jahrzehnten durchlebt hat. Er stellt sich jetzt aber schon darauf ein, in ein paar Jahren die Stadt zu verlassen, und sein Glück auf dem Land zu suchen.
Auf die ländlichen Regionen der Türkei bin ich jetzt auch gespannt. In etwas mehr als einer Woche möchten wir am schwarzen Meer ankommen. Vorerst werden wir noch im Hinterland unterwegs sein. Es sieht so aus, als ob wir des Öfteren mit Regen konfrontiert sein werden. Leider sind die Temperaturen immer noch nicht gestiegen.
Zuviel will ich darüber aber nicht nachdenken. Ich lasse mich überraschen.
Istanbul hat sich mir in den letzten Tagen von vielen Seiten gezeigt. Obwohl ich nur einen kleinen Bruchteil des städtischen Raums gesehen habe, kann ich mir in etwa vorstellen, was es bedeutet hier zu leben. Ich stehe am Sprung auf den asiatischen Kontinent. Für mich beginn im Kopf jetzt die eigentliche Reise. Europa lasse ich jetzt hinter mir.
Asien, ich komme!