Tag 55 – 27.März
Yerevan: Ruhetag; 11-15 Grad, wolkig / Regen
Privatunterkunft
Seit Wochen wieder einmal eine gemütliche Matratze… Traumhaft! Obwohl ich immer wieder auch in Hotels untergekommen bin, war die Qualität der Schlafunterlagen meist eher mäßig. Im Bad von Hasmik und Onik stoße ich auf eine Personenwaage. Neugierig überprüfte ich das aktuelle Körpergewicht. Ist ja interessant, ob man auf der Reise Gewicht verliert. Bisher hat jeder, mit dem ich geredet habe auf dem Rad etwa 5kg verloren. Gefühlt hatte ich an Gewicht zugelegt, zumindest sind die Oberschenkel deutlich dicker geworden, doch die Waage meinte, dass ich 4kg verloren hätte… Nun ja, offenbar muss ich den Energiehaushalt noch ein wenig optimieren.
Bestens erholt ging es also in Begleitung von Onik ins Stadtzentrum. Der angesagte Regen hatte sich noch nicht sehen lassen, es war aber damit zu rechnen, dass im Laufe des Tages noch was kommen würde.Yerevan ist mit etwa 1,2 Mio Einwohnern die größte Stadt Armeniens. Architektonisch fällt auf, dass der Stadtgrundriss sehr geplant wirkt. Noch 1920 lebten nur etwa 20.000 Menschen in der Stadt. Alexander Tamaijan entwickelte den heutigen Grundriss der Stadt. Leider sind viele Ideen von damals nicht weiter berücksichtigt worden. So war beispielsweise ein Grüngürtel um das Stadtzentrum geplant. Onik hat dieses grüne Band noch selbst gesehen, als er zum ersten Mal in Yerevan war, doch im Laufe der Zeit sind die Freiflächen Schritt für Schritt von Cafes und Vergnügungsanstalten überbaut worden.
Es finden sich nur noch wenige historische Gebäude in der Stadt. Viele wurden in den letzten Jahren demoliert und mussten anonymen Neubauten weichen. Gerade im Zentrum, um das Nationalmuseum und die Oper herum wurde in den letzten Jahren viel Neues gebaut, doch leider versprühen die neuen Gebäude keinen Charme mehr. Nur sehr selten wurden alte Gebäude restauriert, bzw. in den Neubau mit integriert. Faszinierend ist der Einsatz von Tuffstein. In allen erdenklichen Farben wird der Stein in Fassaden verwendet. Man kann sich gut vorstellen, dass die Armenier zu den besten Steinmetzen gehört haben. Handwerklich sehr elegante Details stechen bei den alten Fassaden hervor. Auch die neuen Gebäude werden primär mit Tuffstein gebaut.
Beeindruckend auch ein relativ junges Projekt, die sog. Kaskade von Yerevan. Es handelt sich um einen gewaltigen Treppenkomplex aus hellem Travertinstein. Yerevan erstreckt sich über einen steilen Hügel. Die Kaskade sollte einen Stadtteil direkt mit dem Zentrum verbinden. Der Entwurf stammt aus den dreißiger Jahren. Erst in den 1970er Jahren startete Russland den Bau, doch dann zerfiel die Sowjetunion und der Bau wurde gestoppt. Erst in den 2000er Jahren kam Gerhard Cafesjian aus Amerika (reicher Sohn armenischer Geschäftsleute und Kunstsammler) nach Yerevan und brachte das Projekt zu Ende. Am Fuße der Kaskade stehen einige Skulpturen zeitgenössischer Kunst. Im Inneren führen Rolltreppen nach oben. Ein Teil seiner Kunstsammlung ist im Inneren des Komplexes untergebracht. Es sollte das Guggenheim des Kaukasus werden, doch bereits kurz nach der Eröffnung stagnierte der Museumsbetrieb. Der Komplex wird zwar von der Bevölkerung genutzt, doch primär halten sich die Leute auf den Stufen auf und kaum jemand geht ins Innere.
Immer wieder stößt man auf ähnliche Geschichten. Wohlhabende Armenier aus dem Ausland kommen zurück in ihr Land, investieren Unsummen an Geld und müssen leider oft feststellen, dass das Geld im Sand versickert. Viele verlassen danach auch das Land wieder. Ein unvorstellbar großer Anteil von Armeniern lebt im Ausland. Nur ein Bruchteil davon hat sich auch in Armenien niedergelassen.
Immer wieder stößt man auf moderne Architektur, die Stadt gibt sich international, weltoffen und doch immer wieder auch sehr traditionell. Onik kennt die Stadt praktisch in- und auswendig. Wir schlendern herum und ich werde bestens informiert. Ich kann gut verstehen, dass er München hinter sich gelassen hat und in Yerevan seinen neuen Lebensmittelpunkt gegründet hat. Für die meisten Armenier ist es zwar unverständlich, warum Hasmik und er in Armenien wohnen, da sie doch praktisch ein Ticket nach Deutschland haben. Es gibt offenbar zwei Typen von Armeniern, die Einen, die ihr Land über alles schätzen, investieren und versuchen einen Aufschwung zu erwirken, und die Anderen, die so schnell als möglich ins Ausland gehen möchten.In den wenigen Tagen in denen ich nun Armenien bereist habe, hat sich mir gezeigt, dass es sich um ein unwahrscheinlich reiches Land handelt. Reich nicht im Sinne von wirtschaftlich reich, sondern viel mehr in kultureller Sicht, oder auch im Bezug auf die Landschaft. In kaum einem Land kann man derart unterschiedliche Landschaftsformationen auf engstem Raum finden. Historisch betrachtet ist meiner Meinung nach das Land noch weit unter Wert verkauft. Überall finden sich bedeutende Zeugnisse weit zurückliegender Kulturen. Hasmik ist als Archäologin tätig und meint, dass egal wo man in Armenien zu graben beginnt, man immer auf etwas stoßen wird.
Erst kürzlich wurde in der Nähe von Yerevan der älteste Schuh der Welt gefunden. Ein perfekt erhaltener Lederschuh, der über 5000 Jahre alt ist. Leider ist Armenien politisch gesehen ein wenig eingezwängt. Die Grenzen zur Türkei und zu Azerbaijan sind zu, in Richtung Iran gibt es nur einen sehr schmalen Grenzstreifen, nur nach Georgien hin ist das Land offen. Der Konflikt mit Azerbaijan wird noch lange nicht beiseite gelegt werden, auch die Streitigkeiten mit der Türkei werden noch lange bestehen. Es ist fraglich, wie sich das Land in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird.Für mich geht es morgen wieder weiter in Richtung Süden. Ich freue mich schon sehr auf den Iran, doch zuvor muss ich noch ein paar Gebirgspässe überqueren. Es gibt viel zu sehen auf dem Weg zur Grenze. Ich könnte mich noch Wochen aufhalten und hätte dann immer noch nicht alles gesehen. Hasmik und Onik haben mich mehr als herzlich in ihrem Heim aufgenommen. Durch sie konnte ich einen sehr intensiven Einblick in die Geschichte Armeniens und auch in die Geschichte von Yerevan erhaschen. Ein überaus spannendes Land. Es lohnt sich definitiv noch einmal wiederzukommen, doch für mich gehts wieder weiter. Es gibt noch so viel zu sehen…
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